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Shakespeare in Manhattan

West Side Story. Jazz Impressions. Unique Perspectives

Situation und Idee seien noch einmal vergegenwärtigt: Der größte Dirigent seiner Zeit tut sich mit den Top-Textern und Choreographen der Epoche zusammen, um einen klassischen Stoff gemäß der aktuelle Probleme in einer Weltmetropole neu zu interpretieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. So geschehen, als in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Leonard Bernstein zusammen mit Arthur Laurents, Stephen Sondheim und Jerome Robbins Shakespeares Romeo und Julia als Vorlage nahmen, um die Rassenkonfikte in New York zu thematisieren und ihre destruktive Wirkung zu thematisieren. Nach verschiedenen Konzeptänderungen wurde das Werk unter dem endgültigen Titel West Side Story am 26. September im Winter Garden Theatre zu New York City uraufgeführt. Seine Wirkung ging weit über die Stadt hinaus. Es wurde nicht nur wegen seines Themas weltweit gefeiert, sondern es gilt auch als die Geburtsstunde des modernen Musicals.

Das Thema ist bekannt: Zwei Jugendgangs, die Jets, stellvertretend für die im metropolitanen New York aufgewachsenen Underdogs und die Sharks, eine Gruppe der aus Puerto Rico stammenden Einwanderer, treffen aufeinander und rivalisieren miteinander. Ein Mädchen aus der Einwanderergruppe und ein Mitglied der Jets verlieben sich. Nach Verwechslungen und Verfehlungen endet ihre Liebe tragisch inmitten der Gewaltverstrickungen. Romeo und Julia in Manhattan.

Bernstein vollzog die musikalische Umsetzung, indem er die dialogischen und choreographischen Ausdrucksweisen der Jets in Jazz- und die der Sharks in Latino-Rhythmen bettete. Elemente der klassischen Oper, des Musicals, des Hot Jazz und lateinamerikanische Tanzrhythmen griffen ineinander. So trafen die zwei Welten als scheinbare Gegensätze aufeinander, die allerdings bereits die musikalische Realität und die geschätzte Vielfalt New Yorks ausmachten und als solche geschätzt wurden. Die brillante Diversität endete in den Straßen der Metropole als Gegensatz, der im Tod seine Auflösung fand. Konzeptionell war diese Konstruktion genial und sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Kaum jemand, der heute noch die weltbekannten Lieder aus der West Side Story hört, ist sich dieser Botschaft bewusst.

Die nun erschienene Doppel-CD West Side Story. Jazz Impressions. Unique Perspectives veröffentlicht wiederum die großartigsten Interpretationen aus dem Oeuvre. Mit Interpreten wie André Previn and his Pals, Shelly Manne, Red Mitchell, Cal Tjader, dem Dave Brubeck Quartet, Stan Kenton, Annie Ross, Gerry Mulligan, Marian McPartland, dem Oscar Peterson Trio und Manny Albam wurden grandiose Aufnahmen ausgewählt, um das gesamte künstlerische Spektrum dieses Werkes noch einmal in Erinnerung zu rufen. Sie alle tragen dazu bei, die sowohl konzeptionelle Vielfalt wie die situativ inszenierte Einzigartigkeit der beschriebenen Akteure aufleben zu lassen. Beim Hören wird die Botschaft noch einmal deutlich: Stoßen die ethnischen Charaktere ohne Moment der Versöhnung aufeinander, wirken sie destruktiv, betrachtet man sie als verschiedene Ausdrucksformen eines Ganzen, dann sind sie in ihrer Gesamtheit einzigartig. Es ist eine Welt, um die es geht.

West Side Story. Jazz Impressions. Unique Perspectives sendet die Botschaft noch einmal in ein größeres Publikum. So, als hätten die Produzenten es ins Auge gefasst, an alle diejenigen zu appellieren, die über große künstlerische Mittel verfügen, sich den brennenden Themen unserer Zeit zu widmen und sich nicht, wie leider so oft, den abgegriffenen Klischees des Mainstream zu widmen oder sich auf das historisches Erbe ihres eigenen Genres zurückzuziehen. So gesehen, ist West Side Story immer noch eine Blaupause für die Intervention der Kunst in die Wirrnisse des Profanen.

Das Binäre in Reinkultur

The Oscar Peterson Trio. Night Train

Oscar Peterson schrieb eines der Hauptkapitel im modernen Jazz. Mit seinem Trio, Ray Brown am Bass und Ed Thigpen am Schlagzeug, hat er eines jener Alben aufgenommen, die zu den Annalen dieses großartigen Genres gehören. Wie nicht selten bei den Großen seiner Generation, ging er am 16. Dezember 1962 ins Studio zu den Radio Recorders in Hollywood und spielte in einer Session eine ganze Gemarkung des zeitgenössischen Jazz ein. Im Rahmen der Classics des Labels Verve wurde das Album unter dem Titel Night Train veröffentlicht. Wer Oscar Peterson in seinem großen Können auf einer einzigen CD dokumentiert wissen möchte, dem kann trotz der unzähligen erstklassigen Aufnahmen dieser Night Train durchaus reichen.

Die Aufnahmen beginnen mit einer ersten Version des Night Train, welche nicht nur als eine allgemeine Allegorie des Jazz überhaupt gesehen werden kann, sondern auch in exzellenter Weise dokumentiert, wie das Binäre im Jazz intoniert und durchgehalten werden kann. Trotz aller Dynamik, trotz unterschiedlicher Emphase und trotz einer beschleunigenden Bewegung spürt man mit jedem Atemzug die binäre Taktierung. Der Koloss Peterson dosiert seinen Herzschlag, der mit jedem Akkord zur Geltung kommt, im Maß aller Dinge des Jazz.

Die Auswahl der Stücke entspricht durchaus dem Gusto der Zeit, neben Night Train darf der C-Jam Blues ebenso wenig fehlen wie das den Süden als Wiege zelebrierenden Georgia On My Mind. Und der in der späteren Rezeption manchmal in die Ecke des Mainstream verwiesene Peterson scheut sich nicht, mit Stücken wie Bags´Groove und im Bonus Track Now´s The Time Klassiker des Bebop in einer Weise zu interpretieren, die diesem Genre wiederum in betörender Akzentuierung gerecht wird. Da sind die Tempi weder vemindert noch die Akkordfolgen vereinfacht, und dennoch wirken sie entspannt wie nie. Der eiserne binäre Schlag wirkt auf den beschleunigenden Impetus des Bebop wie ein Betablocker und macht somit die Konstitutionsprinzipien beobachtbarer.

Das Zentrum des Albums ist nicht durch Zufall Duke Ellingtons Things Ain´t What They Used To Be. In diesem Stück, das ganz im Sinne des Komponisten mit sanften Akkord-Andeutungen beginnt und durch die Bassläufe regelrecht zu seiner wahren Kontur provoziert wird, kommt die Vorwärtsbewegung des Jazz einzigartig zum Ausdruck. Mit einer im Ohr bleibenden Dynamik wird das turnusmäßige der Vergänglichkeit vertont. Things Ain´t What They Used To Be gerät auf dieser Einspielung zu einer philosophischen Abhandlung über den Wandel und seine ihm innewohnenden Strukturen. Das Vorwärtsstrebende wird ebenso deutlich wie das Zögern, das Zweifeln wie die Ekstase, um in einem Gleichmaß der Erkenntnis zu enden. Peterson verrät in viereinhalb Minuten die Dramaturgie eines ganzen Lebens. Ein Ereignis, das seinesgleichen sucht!