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Die Skandalisierung der Schulden und die Verbrennung öffentlicher Werte

Die Thematisierung von Schulden öffentlicher Haushalte ist so alt wie das Gemeinwesen selbst. Interessant ist die Tatsache, dass seit Bestehen von im Namen der Öffentlichkeit geschaffenen Institutionen die Tendenz zum Defizitären inhärent ist. Unabhängig, bei welcher Staatsform, unabhängig in welcher Epoche. Verwundern muss das nicht, denn es versteht sich nahezu von selbst, dass Dienste, die eine Gemeinschaft in Auftrag gibt, preislich so zu gestalten sind, dass alle Mitglieder derselben eine Chance haben, diese in Anspruch zu nehmen. Im Gegensatz zu privaten Waren und Dienstleistungen, wo der Absatz durchaus interessant sein kann, wenn nur ein Teil der Gesellschaft über die notwendige Liquidität verfügt.

Dennoch neigen öffentliche Institutionen zu systemisch bedingter Ausschweifung, wenn die beauftragende Politik nicht ein scharfes Auge darauf wirft. Systeme, die einen Auftrag haben, achten trotzdem zuerst darauf, dass ihre Existenz gesichert ist. Erst wenn das gewährleistet ist, machen sie sich an die Erfüllung ihrer Aufgaben. Auch das war immer so und ist nicht abhängig von den verschiedenen Formen des Zeitgeistes. Was Fortschritt ist, bestimmen nie die Zeitgenossen, sondern immer erst die Generationen, die genügend Abstand haben, um verschiedene Phasen der Geschichte vergleichen zu können. Und es sollte sich herumgesprochen haben, dass zwischen Selbst- und Fremdbild nicht selten Abgründe klaffen.

Und obwohl die Mahnung angebracht ist, bei den Schulden öffentlicher Haushalte genau hinzuschauen und sie nicht ins Maßlose wachsen zu lassen, sollte nicht vergessen werden, dass es immer so war. Nun, seit einem Vierteljahrhundert, als die alte, bipolare Welt mit ihrer Systemkonkurrenz zusammengebrochen war, tanzt der ganzen Welt eine Ideologie auf dem Kopf herum, die die Schulden öffentlicher Haushalte skandalisiert. Es ist die Ideologie des Wirtschaftsliberalismus, die unterstellt, dass alles, was eine Gesellschaft braucht, auf dem freien Warenmarkt entsteht, sobald ein tatsächlicher Bedarf vorhanden ist. Ausgehend von diesem ideologischen Axiom wird unterstellt, dass der öffentliche Dienst, der in der Regel defizitär operiert, weil er die Leistung allen zugänglich machen muss, nicht in der Lage sei, ordentlich zu wirtschaften.

Die Forderung, die daraus resultiert, ist die nach einer radikalen Privatisierung der bisher erbrachten öffentlichen Leistungen. Damit wird das, was im politischen Willensbildungsprozess einer Gesellschaft als allgemein zugängliches soziales Gut definiert wird, auf den ordinären Warenmarkt geworfen und zwangsprostituiert. Leider, so das zu ziehende Fazit, hat diese Ideologie Einzug genommen in die meisten europäischen Regierungen und in die EU. Der deutsche Finanzminister zählt zu den triebgesteuertsten Vertretern dieser Ideologie und genau dort, wo es darum geht, Gemeinwesen systematisch zu zerstören, wie momentan im Falle Griechenlands, bläst er am kräftigsten das Horn der Attacke.

Leistungen, die aufgrund eines politischen Willensbildungsprozesses von den politischen Organen einer Gesellschaft in Auftrag gegeben werden, um gemäß ihrem Selbstverständnis das Dasein für alle zu gestalten, gehören zu den höchsten Gütern der Zivilisation. Und genau diese Leistungen sind es, gegen die momentan seitens der gewählten Regierungen hier in Zentraleuropa zu Felde gezogen wird. Das Ganze ist ein Widerspruch in sich: gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen negieren den Sinn ihre Auftrages und propagieren die Zerstörung des gesellschaftlichen Zivilisationsgrades. Der Feldzug des Wirtschaftsliberalismus gegen die Gemeinwesen wird momentan geführt durch Funktionäre, die sich für die Sabotage ihres eigenen Auftrages entschieden haben. Und der Aufschrei gegen die öffentlichen Schulden ist die Aufforderung, alle gesellschaftlichen Werte öffentlich zu verbrennen.

Strategien und Systeme der Priorisierung

Ein eigenartiges Phänomen dringt immer wieder ins Bewusstsein, wenn es darum geht, Prioritäten zu setzen. Privat ist das eigentlich ganz einfach. Wer sich bei einem bestimmten Budget etwas Neues anschaffen möchte, aber kein zusätzliches Geld hat, der oder die überlegt sich, auf was stattdessen entweder verzichtet werden oder das in geringerer Intensität betrieben werden soll. Das können alle bis auf die wenigen armen Seelen, die bei der Schuldnerberatung landen und für diejenigen, die ganz unten an der sozialen Leiter stehen, stellt sich die Frage erst gar nicht, sie sind froh, wenn sie überhaupt etwas haben. Doch bleiben wir bei denen, die mit ihrem Budget jonglieren können.

Diese Menschen sind es, die eben auch in den öffentlichen Sektoren der Gesellschaft arbeiten. Dort ist, von der politischen Beauftragung bis in die Exekutive, diese nahezu anthropologische Befähigung der Priorisierung abhanden gekommen. Wer das nämlich gattungsgeschichtlich nicht konnte, der ging historisch unter. Im öffentlichen Dienst mit seinen Leistungen ist es aber so geworden. Kein Stadt-, Gemeinde-, Land- und auch nicht der Bundestag sind noch in der Lage, neue Investitionen zu planen, ohne gleichzeitig mehr Geld zu fordern. An die Möglichkeit, auf andere Ausgaben zu verzichten, die im Vergleich einen geringeren Stellenwert haben als die geplanten kommt niemand. Wäre das so, so würde ihm kollektiv das Fell verbrannt. Davor hüten sich alle.

Die kausale Ursache für diese politische Handlungsunfähigkeit liegt allerdings zumeist nicht nur am Gemüt, sondern an einem bundesrepublikanischen Luxus, der eigentlich eine Tragödie ist: Es fehlt die Strategie. Nur wenn eine Strategie vorliegt, kann man darüber diskutieren, was notwendig ist, um politisch vorwärts zu kommen. Politik und das, was durch sie bewirkt wird, wird hierzulande in den meisten Fällen nicht auf ihre Wirkung evaluiert. Die Absichtserklärung, etwas Gutes oder Notwendiges tun zu wollen, reicht in der Regel aus, um die Investition zu begründen. Da auch die Gesellschaft keinen Konsens über Sinn und Zweck gemeinsamer Anstrengungen hat, wird sich daran auch so schnell nichts ändern. Bis auf eine Kommune in Deutschland macht das niemand.

Der öffentliche Dienst selbst und die dort beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben diesem Muster zu folgen. Im Vergleich zu vielen vergleichbaren Ländern sind sie gut ausgebildet und bringen fachlich vieles zustande, nur im Managerialen mündet es allzuoft in eine Katastrophe, nämlich genau dann, wenn es darum geht, die eigenen Leistungen zu priorisieren. Dann steht das Management of Public Administration vor dem Dilemma, dass die sie beauftragende Politik die Streichung strategisch weniger relevanter Leistungen wohl nicht honorieren wird, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von einem Abbau sprechen werden und daher der beabsichtigte Sinn der Handlung keine Rolle mehr spielen wird.

Viele sprechen davon, dass der Leidensdruck nicht groß genug ist, um den öffentlichen Sektor wieder in die Lage zu bringen, die anthropologisch notwendige Befähigung zur Priorisierung zurück zu erlangen. Daher erklärt sich auch die häufige Verwendung der Metapher der schwäbischen Hausfrau, weil letztere natürlich priorisieren kann und sie über eine, wenn auch begrenzte, Strategie verfügt. Vor allem letzteres ist ein Anachronismus, der in der Zukunft dazu führen wird, nicht mehr bestehen zu können. Nationen ohne Strategie werden im Prozess der Globalisierung schlichtweg erodieren. Alles mit dem Phänomen der post-heroischen Gesellschaft zu erklären ist mit Sicherheit zu wenig. Strategien sind zu entwickeln und Systeme der Priorisierung einzuüben. Das wäre nicht nur lebenswichtig, sondern auch weit fruchtbarer als unbegründete Sparorgien.