Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen
Ein Paradoxon unserer Tage besteht daran, dass man, sobald man die aktuelle Befindlichkeit des so genannten Westens kritisiert und an seine Entstehungsstärken erinnert, sich der Systemopposition verdächtig macht. Vielleicht ist es auch Zuviel verlangt. Einerseits destruktive Tendenzen verteidigen zu müssen und nicht irgendwelche dahergelaufenen Feinde dafür verantwortlich machen zu können, sondern sich an die eigene Nase fassen zu müssen. Insofern habe ich laut aufgeatmet, als ich das Buch des schottisch-amerikanischen Historikers Niall Ferguson in die Hand bekam, das Abhilfe versprach. Unter dem Titel „Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen“ kündigt Ferguson an, sich mit den Kraftquellen des Aufstiegs des Westens befassen zu wollen, ihre Entwicklung zu beobachten und zu einem Abgleich mit dem gegenwärtigen Zustand im Vergleich zu wieder erstarkenden Kulturen und Systemen bereit zu sein.
Wohltuend beim Betrachten der Gliederung war, dass es sich dabei nicht um die immer wieder exklusiv gesetzte Triade von Aufklärung, Technik und demokratischer Staatsform handelte, sondern dass Ferguson eine meines Erachtens intelligentere Aufgliederung vollzieht. Anhand von den Sektoren Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum und Arbeit durchleuchtet er den atemlosen Aufstieg des Westens vom 16. Jahrhundert bis heute. Es ist eine spannende Reise, bei der es nicht an Ausblicken auf andere kulturelle Hochperioden wie der chinesischen fehlt. Dass das hier genannte Paket zweifelsohne nicht ohne andere Supplemente Sinn vermittelt, wie der Rechtssicherheit besonders in der Eigentumsfrage, steht außer Zweifel. Umso mehr vermisste zumindest ich bei der Lektüre die Künste, vor allem im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Gerade die von ihr ausgehende Inspiration ist eine Quelle für die massenhafte Verbreitung von Kritik, Inspiration und Formnovellierung in den westlichen Massengesellschaften.
Doch davon abgesehen ist vieles besonders vom heutigen Zustand aus betrachtet nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gegeben. der Wettbewerb ist durch Monopolisierung und Kartellierung kontaminiert, die Wissenschaften sind stark instrumentalisiert, das Eigentum hoch konzentriert, die Medizin privatisiert, der Konsum hat terroristische Formen angenommen und der Arbeitsethos hat sich in vielerlei Hinsicht pulverisiert. Das alles ist kein Grund, sich nicht an den Quellen und ihren Möglichkeiten zu orientieren, um nach Wegen zu suchen, die nicht in Utopien sektiererischeren Charakters enden.
Dass Ferguson in diesem voluminösen Buch nicht ohne bodenlose Verdächtigungen gegenüber aus dem westlichen Kapitalismus entstandenen kritischen Theorien auskommt und sich immer wieder einmal im Gestrüpp der Polemik verirrt, hätte er genauso wenig nötig gehabt wie analoge Ausfälle gegen erstarkende Ökonomien, wie der chinesischen, die er als schlechte Kopie westlicher Qualitäten begreift und deren Scheitern er prophezeit.
Das Buch eignet sich hervorragend als Lektüre, um sich Gedanken über die tatsächlichen Kraftquellen des Westens zu machen und sie mit der heutigen gelebten Praxis abzugleichen. In dieser Hinsicht sei die Lektüre unbedingt empfohlen. Die vor allem in den letzten einhundert (von knapp 600) Seiten aufscheinenden Formulierungen politischer Pamphlete genau der Parteien, die für die Verwässerung der Stärken stehen, kann man sich sparen. Das ist schade. Aber so sind die Zeiten. Fragen wir den Sommelier! Grandios im Antritt, schwach im Abgang. Trotzdem einen Schluck nehmen!
