Schlagwort-Archive: Neoliberalismus

Englische Woche

Zwei unvergessliche Fußballspiele wurden in dieser Woche in die Archive der Sportart aufgenommen. Zunächst schlug der FC Liverpool den CF Barcelona im Rückspiel der Halbfinalrunde mit 4:0, nachdem er eine Woche zuvor in Barcelona seinerseits mit 3:0 verloren hatte. Alle, die auf Liverpool gesetzt hatten, wurde als Fanatiker denunziert. Das, was sich auf dem Platz an der Anfield Road dann ereignete, glich einem Fußballwunder, vor allem einem mentalen. Der noch eine Woche zuvor brillierende Messi ging mit seinem Team unter wie ein Ensemble schlecht abgestimmter Mittelklassefußballer. Das, was sich seitdem in Liverpool abspielt, hat den Charakter eines emotionalen Karnevals.

Einen Tag später dann kamen die Tottenham Hotspurs nach Amsterdam und mussten eine in London bereits erlittene Heimniederlage von 1:0 wettmachen. Nachdem Ajax Amsterdam allerdings wiederum zwei Tore im eigenen Stadion vorlegte, schien die Sache entscheiden zu sein, bis die Spurs zu einer Aufholjagd bliesen und tatsächlich in der letzten Minute mit dem 3:2 Ajax das Aus quittierten.

Sowohl beim FC Liverpool als auch bei den Tottenham Hotspurs handelt es sich um ehemalige Arbeitervereine, die heute alles andere als das sind. Vor allem in England wurden vor einiger Zeit die Einnahmen aus Übertragungsrechten anders verteilt und die Möglichkeit für Investoren geschaffen, in Fußballvereine einzusteigen. Seitdem floss das Geld und mit ihm kamen Fußballer und Trainer aus aller Welt in die Liga. Die Summen, die dort für Akteure bezahlt werden können und bezahlt werden, sind für hiesige Verhältnisse überdimensioniert, aber sie werden bezahlt und deshalb hat sich die englische Liga zu einem Magneten für gute Fußballspieler entwickelt.

Fußball, das die immer wieder in hiesigen Beiträgen vertretene These, Fußball ist ein Abbild, ein Spiegel, ein Kaleidoskop der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Das gilt für die politischen Strömungen, wie es Luis Cesar Menotti in seine Beiträgen selbst formuliert hatte, als auch für die ökonomische Seie. Dass ausgerechnet in England Milliardäre und Kapitalgesellschaften ihr Geld in Fußballvereine stecken, ist kein Wunder.

Großbritannien hat sich mit der Wende zum Neoliberalismus in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von der industriellen Wertschöpfung im eigenen Land verabschiedet und sich für die Existenz und den Ausbau des Landes als Finanzhandelszentrum entschieden. Dort werden seitdem Finanz- und Kapitaltransfers um den gesamten Erdball organisiert. Wo Kapital ist, will es investiert werden, um Renditen zu erwirtschaften.

Da stellte es sich als vorteilhaft heraus, an diesem Ort ein nicht mehr erforderliches Proletariat von ca. 4 Millionen Menschen anzutreffen, dessen Herz traditionell einerseits für den Sozialismus, andererseits für den Fußball schlug und das in seinem erzwungenen Müßiggang beschäftigt werden musste. Aus dieser Situation heraus entstand der heute existierende Kapitalmarkt für einen Fußball, der hoch attraktiv und sehr teuer ist. Die Preise, die dort für einen normalen Stadionbesuch bezahlt werden müssen, reichten hierzulande für ein anspruchsvolles Programm in der Semper Oper oder der Elbphilharmonie. Wie die einstige Massenbasis diese Preise erwirtschaftet, bleibt im Bereich der Spekulation.

Zu beobachten bleibt der allgemeine Trend im Zeitalter von Liberalismus und Globalisierung, der Fußball zu einem teuren Produkt für immer weniger Menschen gemacht hat. Nochmal, die erwähnten Spiele waren fantastisch. Das Endspiel zwischen Liverpool und Tottenham am 1. Juni in Madrid wird nicht in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zu sehen sein. Zu teuer!

Eine traurige Geschichte, mit Witz erzählt

Pride. Matthew Warchus

Kürzlich war da wieder so ein Hinweis, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Mir wurde der Film „Pride“ empfohlen, es sei eine typische britische Low Budget-Produktion mit skurrilen Figuren und viel Witz. An einem dieser Abende, wo die die Flügel etwas hängen, sah ich ihn mir an. Schon nach wenigen Sequenzen war klar, dass die Beschreibung sehr oberflächlich war, denn es handelte sich um eine sehr ernsthafte Geschichte. Während des Bergarbeiterstreiks macht sich eine Gruppe Londoner Lesben und Schwule auf, um die Kumpels einer walisischen Zeche bei ihrem Kampf gegen die Massenschließungen im Bergbau zu unterstützen. Ihr Motiv ist einfach und zutreffend: Was wir, so die Aktivisten, bis heute an Diskriminierung erlebt haben, erleben die Kumpels nun. Deshalb sind wir solidarisch.

Ein Großteil der Handlung setzt sich mit der Wirkung der gesellschaftlichen Diskriminierung per se auseinander. Innerhalb des walisischen Ortes, in der die Zeche steht, herrscht ein kruder Konservatismus, der schlimmer ist als im relativ offenen London. Es entflammt ein wilder Kampf darüber, ob die Bergleute die angebotene Solidarität und die gesammelten Gelder überhaupt annehmen sollen. 

Letztendlich entsteht das Bündnis und einer der Protagonisten auf der Bergarbeiterseite versichert bei einer Grußadresse während eines Charity-Events in einem Londoner Club, dass, sollte sich die Notwendigkeit ergeben, die Kumpels auf die Seite der Lesben und Schwulen stehen. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt: Trotz großer Gesten der Solidarität gehen die Bergarbeiter irgendwann in die Knie und beenden ihren langen Streik und der Feldzug des Thatcherismus gegen die organisierte Arbeiterbewegung in Großbritannien schreitet voran. Allerdings resultiert aus dem im Film geschilderten Bündnis das politische Ende der gesetzlichen Verfolgung von Homosexualität. Letztendlich auf Initiative der Bergarbeitergewerkschaft ringt sich Labour nach mehrmaligen gescheiterten Versuchen dazu durch, im Parlament für die Aufhebung der Kriminalisierung zu votieren, was die Gesetze zu Fall bringt.

Neben dem geschilderten Sachverhalt reiht sich, und insofern war der Hinweis doch zutreffend, der Film ein in eine ganze Gruppe von Low Budget-Produktionen, die den wohl grausamsten Nachkriegsklassenkampf in Europa zum Thema haben. Pionier unter diesen Filmen, die mit wenig Geld die Geschichte dieses aussichtslosen Kampfes genauso schildern wie den Lebenswillen, den Humor und die Chuzpe derer, deren Welt heute nicht mehr existiert. Brassed Off, der Film, der die Geschichte einer Bergmannskapelle zum Thema hatte, kann als Pionier in dieser Abteilung des modernen Geschichtsunterrichts gelten.

Pride ist zu empfehlen, weil der Film noch einmal die Geburtsstunde des Neoliberalismus im Europa der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeigt: Das rigorose Vorgehen der britischen Premierministerin Margaret Thatcher gegen eine der am besten organisierten Arbeiterklassen Europas, was letztendlich zu deren Niederschlagung beitrug. Unter der Aufkündigung des gesellschaftlichen Konsenses leidet die britische Gesellschaft bis heute, und spürbarer denn je. Es sollten in Europa noch viele Figuren folgen, die nach der Partitur Thatcher spielten und die dazu beitrugen, das europäische Sozialgefüge in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. 

Wer sich den Film ansieht, erlebt die Geburtsstunde des Wirtschaftsliberalismus in England und Europa noch einmal hautnah. Es ist eine traurige Geschichte, mit Witz erzählt.

Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Agenda!

François de Salignac de La Mothe-Fénelon, ein französischer Geistlicher und Schriftsteller, der bereits im Jahr 1715 verstarb, war derjenige, der die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit miteinander in Beziehung brachte. Damit schuf er lange vor der eigentlichen Relevanz der bürgerlichen Revolution eine Denkaufgabe, die bis heute Bestand hat. Denn die Liaison dieser drei Begriffe ist bis heute selbst vielen aktiven Politikern nicht bewusst. Vielmehr wurde das große Motto der bürgerlichen Revolution meistens als eine Aneinanderreihung von Zielen verstanden, unter denen sich möglichst viele Menschen zusammenfinden sollten.

Die historische Entwicklung vieler bürgerlicher Gesellschaften hat gezeigt, dass die Krisen, in die  diese jeweils gestürzt sind, in einem Missverhältnis der drei Begriffe zueinander bestand, während die Blütezeiten jeweils dadurch ausgezeichnet waren, dass sich die herrschende Politik auf die Wechselseitigkeit und die Balance von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bezog.

Die Freiheit ist ein Signet eines bestehenden Willens und der vorhandenen Stärke, sie leben zu wollen. Gleichheit bedeutet das formale Recht eines jeden, vor dem Gesetz mit jedem anderen konkurrieren zu können. Brüderlichkeit wiederum ist die gesellschaftliche Übereinkunft, sich auch um jene zu kümmern, die trotz der formalen Gleichheit aufgrund welcher Umstände auch immer in Not geraten sind, zu kümmern. In dieser Kombination hat die bürgerliche Idee eine geniale Formel bekommen, um sich eine Balance schaffen zu können, die durch die Dynamik von Eigentum und Produktivität ständig bedroht ist. Der bürgerlichen Gesellschaft liegt eine gedachte Humanität zugrunde, die sie de facto nie wird komplett einlösen können, die jedoch, wenn spirituell vorhanden, in der Lage ist, die auseinander strebenden und aufeinander zusteuernden Kräfte zusammenzuhalten und vor einander zu bewahren. Das Prinzip ist mit den drei Begriffen einfach formuliert, aber es ist ist ein kompliziertes Konstrukt.

Die historische Phase, in der wir uns befinden, ist eingebogen auf die Straße der großen Krisen. Es ist das Ergebnis einer langen, nahezu exklusiven Bezugnahme auf das Prinzip der Freiheit. Die Freiheit derjenigen, die Willen und Mittel hatten, ihre Interessen durchzusetzen, dominierte seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan, über Tony Blair und Gerhard Schröder bis hin zu Wolfgang Schäuble und Emmanuel Macron. Sie alle traten und treten ein für den Wirtschaftsliberalismus, für Steuersenkungen, für Staatsrückbau, für Deregulierung und Privatisierung. 

In der Folge dieser Politik wurde die formale Gleichheit zu einem obszönen Verweis, weil die verfügbaren Mittel und die Lebensunterschiede in der Gesellschaft so exorbitant voneinander abzuweichen begannen, dass nur noch von einer Farce gesprochen werden kann. Und es kam hinzu, dass das Maß völlig aus den Fugen geriet. Wenn es im Strafmaß schmerzhafter wird, sich ein Stück Bienenstich vom Blech zu schnappen als den Staat steuerlich um Millionenbeträge zu übervorteilen, dann ist das Prinzip der Gleichheit geschändet.

In Zeiten wie diesen von dem Prinzip der Brüderlichkeit zu sprechen, erscheint nahezu als nostalgische Wehleidigkeit. Sie wurde als erste geopfert und spielt de facto in der neoliberalen Welt keine Rolle mehr. Ausgehend von der Maxime einer ausgleichenden Rolle der bürgerlichen Gesellschaft muss das Fazit gezogen werden, dass Gleichheit und Brüderlichkeit der Freiheit geopfert wurden.

Die Krise der liberalen Demokratie, über die allenthalben lamentiert wird, ist selbst verschuldet. Sie hat den Starken, die nur stark sind, weil sie gesellschaftlich nicht in die Pflicht genommen werden, alles geopfert. Auf der Agenda der nächsten Jahre müssen Gleichheit und Brüderlichkeit ganz oben stehen!