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Nicht alles jenseits von Gut ist automatisch Böse

Michael Lüders. Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen

Es stimmt tatsächlich! Wer sich informieren und andere Betrachtungsweisen und Argumentationslinien kennenlernen will als es der gebrüllte, indoktrinierende Konsens auf den ersten Blick vermuten lässt, kann dieses tun. Und, um Missverständnissen vorzubeugen: auch auf der anderen Seite befinden sich „Expertisen“, die nicht selten abstrus daherkommen, die in einer flachen Polemik ersaufen und wenig überzeugend sind. Allerdings lassen sich jenseits der überall ertönenden offiziellen Sichtweise dennoch Stimmen finden, die es wert sind, gehört zu werden. Eine davon ist die des Politologen und Islamwissenschaftlers Michael Lüders. In zahlreichen Publikationen hat er seine Kenntnisse über den Nahen Osten nachgewiesen und zur Dechiffrierung vieler Tendenzen beigetragen, die in diesem Teil der Welt eine gehörige Rolle spielen und bei der politisch-plakativen Schwarzweiß-Zeichnung vor allem amerikanischer Außen- und Militärpolitik nicht sichtbar werden. 

Die neueste Publikation von Michael Lüders widmet sich allerdings ureigensten, deutschen Belangen, die sich mit dem politischem Selbstverständnis hierzulande und den Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik befassen. „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen“ heißt das Buch und es und in ihm seziert der Autor auf unterschiedlichen Feldern, wie sich ein über allem stehender Moralismus auf die Wahrung der eigenen Interessen in negativem Sinne auswirken kann. 

Er beginnt mit dem Drama um die PCK-Raffinerie Schwerdt an der Oder, die dem erklärten Krieg gegen Russland geopfert wurde und setzt sich in diesem Zusammenhang mit den verheerenden Auswirkungen auf die eigenen Interessen der Sanktionen gegen Russland auseinander. Seine These: die Sanktionen schaden denen, die sie verhängen, mehr, als dem vermeintlichen Feind. Es folgt ein Schwenk auf die Politik gegenüber Katar und der zum Teil grotesken Performance der Bundesregierung gegenüber dem Staat. Einerseits Bittsteller in Bezug auf Öl und Gas, andererseits zutiefst empört über dortige Vertragsverhältnisse beim Bau der WM-Stadien und Ankläger in Bezug auf individuelle Freiheiten, besonders gegenüber denen der sexuellen Orientierung. 

Ein weiterer Exkurs ist der NATO gewidmet, die ihrerseits als Militärposten der USA fungiert, zunehmend einen politischen Riss durch Europa zieht und sich auf Kosten Europas insgesamt zu einer globalen Kriegsorganisation gemausert hat. In diesem Kontext setzt sich Lüders noch einmal mit dem Entstehen des Ukraine-Konflikts auseinander und dokumentiert damit die Unhaltbarkeit der These von einem plötzlichen Überfall Russlands auf ein souveränes Land. 

Die These von dem aggressiven Charakter der NATO wird auch anhand der zunehmenden Aktivitäten der Bündnispartner gegenüber China unterlegt,  ganz im Interesse der USA, die China als den Gegner par excellence ohne Rücksicht auf europäische Interessen ausgerufen haben. Und so operiert nun ein nordatlantisches Verteidigungsbündnis mit Kriegsmaterial direkt vor der chinesischen Haustür im südchinesischen Meer. Allein die geographische Beschreibung der Vorgänge illustriert die Absurdität dieser Politik.

Ein Ausblick dieses faktenreichen wie sachlich gehaltenen Buches mündet in der Gegenüberstellung von Transatlantiker und Pro-Europäer und muss als ein Plädoyer für die Wahrnehmung  der eigenen deutschen wie europäischen Interessen begriffen werden. 

Der Moralismus in der Politik führt zu eigenartigen Konstellationen, denen nicht selten die eigenen Interessen zu Opfer fallen. Nicht alles jenseits von Gut ist automatisch Böse.