Schlagwort-Archive: Mehrheitsprinzip

Wie wichtig ist der Föderalismus?

Über Jahrzehnte hat die Bundesrepublik Deutschland in aller Welt ihre Form des Föderalismus gepriesen. In die Wiege gelegt war diese Form dem jungen Weststaat von den alliierten Siegermächten, die verhindern wollten, dass ein zentralistisches Deutschland zu schnell wieder auf Abwege geriet. Der Gedanke an sich bringt Positives mit sich. Jede Form des Regionalismus beinhaltet ein Gegengewicht gegen zentralstaatliches Durchregieren. Nicht, dass der bundesrepublikanische Föderalismus bereits ein modernes, plebiszitäres und auf größere Autonomie gerichtetes politisches System eines international eingebetteten Regionalismus wäre. Dazu sind ist die Fokussierung vor allem auf Bildung und Kultur zu restringiert. Aber es ist ein Ansatz, der den lokalen Besonderheiten gerecht wird. Dort, wo das Leben spielt, können die Menschen am besten bestimmen, was für sie politisch am adäquatesten ist. Im Vergleich zu anderen politischen Systemen, die dem Regionalismus mehr Tribut zollen, wäre eine Reduktion des zentralistischen Monopols auf die Verteidigung und ein einheitliches Steuersystem ein weiterer Schritt in Richtung regional definierter Selbstbestimmung.

Was sich im Zusammenhang mit der Pandemie und ihr politisches Management zeigt, ist auch ein Kampf um die Frage des Föderalismus. Bei Betrachtung dessen, wie einzelne Bundesländer auf das so genannte Infektionsgeschehen vor Ort reagieren, lässt sich nicht festmachen, dass dort jenseits aller Realitäten eine unverantwortliche Politik zutage träte. Dennoch haben sich aus der Bundesregierung heraus, eskortiert von den öffentlichen Fernsehanstalten, zunehmend Positionen vernehmen lassen, die die Rechte der Bundesländer massiv einschränken wollen. Unter Anführung der besonderen krisenhaften Situation wird immer wieder das Mantra angestimmt, dass lokale Unterschiede bei den erlassenen Regeln der Bevölkerung gegenüber nicht mehr vermittelbar seien. Dass es ebenso unvermittelter sein könnte, wenn zentralistische Erlasse gleichermaßen für das Zentrum von München, den Großraum Berlin wie für Ostfriesland oder Mecklenburg-Vorpommern gelten sollten, kommt den Befürwortern des neuen Zentralismus nicht in den Sinn. 

Einmal abgesehen von dem Irrglauben, dass das Denken in dem Begriffspaar von Regel und Sanktion letztendlich zum Erfolg führen wird, ohne sich die Frage zu stellen, wie das Handeln der Krise aus einer vermittelten Überzeugung geschehen könnte, muss die Problematisierung der bestehenden föderalistischen Strukturen als ein Mosaik betrachtet werden, dass sich in eine neue strategische Ausrichtung des Landes einfügt. Wenn davon gesprochen wird, dass Deutschland in Zukunft international mehr Verantwortung übernehmen müsste, dann ist damit ein starker Staat gemeint, der international zunehmend verstärkt militärisch operiert, in den Konflikt mit Russland und China gehen wird und sich die Ressourcen zu sichern sucht, um die es im Kampf um Finanzen, Macht und Einfluss gehen soll.

Bereits die EU hat sich, unter besonderem Engagement Deutschlands, zu einem zunehmend zentralistischen Moloch entwickelt, der nur noch unter den Anfangskonzessionen wie der Einstimmigkeit leidet. Auch diese Stimmen sind zunehmend zu hören. Weg, so heißt es, mit diesem historischen Anachronismus und hin zu einem einfachen Mehrheitsprinzip. Da sind Ereignisse wie in Ungarn und Polen, die alles andere als demokratisch sind, ein willkommener Vorwand, um die Schlinge um die Triebe lokaler Selbstbestimmung zu schließen. 

Eine Erkenntnis aus dem Prozess der Globalisierung findet sich in dem Satz „Global denken, lokal handeln!“ Er setzt auf eine starke lokale Selbstbestimmung in einem verwobenen internationalen System. Ein rigider Zentralismus steht dem nicht nur entgegen, sondern er entpuppt sich, wenn die Bilanz geschlossen wird, als ausgesprochen reaktionär. In diesem Kontext sind die Angriffe auf den Föderalismus auch zu sehen. Ob das schmecken mag oder nicht.  

Erfurt: Sturmtruppen gegen den Souverän

Der Europaabgeordnete Sonnenborn von Die Partei, seinerseits bekannt für manch lakonischen Kommentar, brachte es auf den Punkt: wenn man mit fünf Prozent der Stimmen Bundeskanzler werden kann, so sagte er, dann wechsle ich sofort nach Berlin! Ja, so einfach kann es sein. Bei allen hitzigen Diskussionen über das Debakel in Thüringen, in denen immer wieder auch Stimmen laut wurden, es handele sich dabei um ein typisches Phänomen der Demokratie, dass es wechselnde parlamentarische Mehrheiten nun einmal gebe, ob einem das schmecke, oder nicht, ist eine Tradition, die zum Selbstverständnis der formalen Demokratie gehört, kalkuliert unter den Tisch gefallen. Es handelt sich um das Recht der am stärksten vertretenden Fraktion, auch das höchste Amt zu besetzen. 

Ein Blick sowohl auf den Bundestag als auch auf die Landesparlamente zeigt, dass dieses bis zu dem denkwürdigen Tag in Thüringen bis heute überall galt. Der Wille, den amtierenden Ministerpräsidenten Ramelow zu verhindern, hat mit dieser Tradition zumindest in den Köpfen der Komplotteure bei FDP, CDU und AFD Schluss gemacht. Das ist der eigentliche Dammbruch. Es wird mit dem Argument der Wechselhaftigkeit demokratischer Entscheidungen endgültig auf das Wählervotum geschissen. Stärkste Partei bei den Wahlen in Thüringen war die Linke, demnach haben sich die meisten der Wählerinnen und Wähler für eine Fortsetzung einer Regierung unter Ramelows Führung entschieden. 

Hätte Ramelow in den vergangenen vier Jahren eine Politik verfolgt, mit der er nun von den Putschisten identifiziert wird, wäre das Ergebnis sicherlich ein anderes gewesen. Ihn als einen Vertreter der alten SED-Herrschaft zu klassifizieren, ist ein Manöver, das durch keinerlei Beleg untermauert werden kann. Und eine weitere argumentative Inkonsistenz hat sich hinzugesellt. Das alte, abgedroschene Mantra von den extremen Rändern, das den Faschismus und Sozialismus gleichsetzt, wäre nur dann Grundlage der gegenwärtigen Situation gewesen, wenn die Ablösung Ramelows ohne die Stimmen des rechten Randes zustande gekommen wäre. Ist sie aber nicht. Die selbst ernannten Demokraten, die sich vor keiner Koterei fürchten, haben mit dem rechten Rand paktiert, um den so genannten linken Rand zu verhindern. Beschämend einfältig, doch folgerichtig und schlüssig.

Ja, manchmal ist es wichtig, sich in den Annalen noch einmal zu vergewissern. Max Reimann, sicherlich eine schillernde Figur und letzter Vertreter der KPD vor ihrem Verbot im Jahr 1956 war es, der bei der parlamentarischen Erörterung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland den prophetischen Satz von sich gab, seine Partei sei gegen das Grundgesetz, übrigens weil ihr die Klärung der Eigentumsverhältnisse und deren gesellschaftlicher Verpflichtung nicht weit genug ging, aber seine Partei werde diejenige sein, die es irgendwann am vehementesten verteidigen müsse. Und so, wie es aussieht, ist die Notwendigkeit, das Mehrheitsprinzip, das durch das Votum des Souveräns bis heute galt, gegen diejenigen zu verteidigen, die sich bis dato mit dieser Verfassung brüsteten und nun in einem Rausch der Machtbesessenheit davon Abstand nehmen. 

Die Erfurter Vorfälle sind ein leuchtendes Signal für die Verhältnisse, die sich in bestimmten Parteien mittlerweile etabliert haben. Und wie sie es rezipieren, zeigt, dass sie an ihrem Kurs festhalten wollen. Die Bürgerproteste, die sich an den Eklat im Landtag anschlossen, als Aufmarsch von Sturmtruppen des linken Totalitarismus darzustellen, deutet auf eine sich zum Chronischen gesteigerten Gemütslage hin. Wenn sie von Sturmtruppen reden, erzählen sie von sich selbst. Ein Phänomen, das nicht selten ist. Ist zu hoffen, dass der Souverän noch einmal zu Wort kommt. Und, bitte, nichts vergessen!