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Frankreich: Von Befriedung keine Spur!

Frankreich ist ein unruhiges Land. Und das nicht erst seit einigen Tagen, in denen nächtens mehr als 45.000 Polizisten die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten sollen. Bereits im Jahr 2005, zu Zeiten des damaligen Präsidenten Sarkozy, brannten die Vorstädte, die in Frankreich Banlieues genannt werden. Der Anlass damals waren zwei tote Jugendliche aus dem ex-kolonialen Migrantenmilieu, die auf der Flucht vor der Polizei ein Trafo-Häuschen überwinden wollten und dabei letale Stromschläge erlitten.  Heute, vor wenigen Tagen, trafen einen Jugendlichen, der sich einer Polizeikontrolle entziehen wollte, tödliche Schüsse durch die Polizei. In Nanterre, 10 Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt. 

Das ist der eine Teil der Geschichte. Der andere spielte in den letzten Jahren im ganzen Land. Anlass waren Benzinpreiserhöhungen, die vor allem die Pendler trafen, die sich nicht mehr leisten konnten, in der Stadt zu wohnen und nun von der Peripherie nicht mehr in die Zentren konnten, wo sie ihre Billigjobs hatten. Was daraus entstand, war die so genannte Gelbwesten-Bewegung. Flächendeckend, wütend, eine soziale Rebellion, jenseits der existierenden Parteien.

Was immer noch schwelt, ist der Protest gegen eine Rentenreform der Regierung. Sie war, so die durch diesen Akt mächtig revitalisierten Gewerkschaften, ein weiterer Baustein in der neoliberalen Agenda des gegenwärtigen Präsidenten Macron. 

Letzterer war 2017 zum Präsidenten gewählt worden. Seine Wahl war ein Desaster für alle existierenden Parteien, die, egal in welcher Bündnisform, nichts gegen die von Macron gegründete Bewegung République En Marche (Republik in Bewegung) ausrichten konnten. Es war ein Aufschrei gegen das etablierte Parteiensystem und die wo auch immer verorteten Eliten. Frankreich war müde von den Attacken des Neoliberalismus und erhoffte sich von Macron einen frischen Wind. Übrigens, wie historisch so oft, handelte es sich wiederum um eine Analogie zu den Entwicklungen in der anderen präsidialen Demokratie, den USA, mit der Wahl Donald Trumps. Die Motive seiner Wahl waren analog zu denen bei der Stimme für Macron.

Dass es sich bei dem Überdruss gegen das etablierte Parteiensystem und der Entscheidung für Macron um einen Trugschluss handelte, stellte sich früh heraus. Man treibt den Teufel nicht mit dem Beelzebub aus. Macron war besser getarnt als Trump, seine Manieren unauffällig, seine Agenda war eine lupenreine Version des unverbrüchlichen Neoliberalismus. Und die Reaktion auf Widerstand bestand und besteht in einer radikalen Militarisierung der Polizei, im Inkraftsetzen von Notverordnungen und Ausnahmezuständen. Die Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Zentren des Widerstands waren die Folge.

Eine Kehrtwende in der Politik des Präsidenten ist nicht absehbar. Alle Äußerungen Macrons und seiner Sicherheitsbeamten gehen in dieselbe Richtung: weitere Aufrüstung der Polizei, weitere gesetzliche Beschränkungen des Demonstrationsrechts. Wohin die Reise gehen könnte, äußerte jüngst ein in Deutschland forschender französischer Politologe, der beschrieb, was Frankreich erwarten würde, wenn bei den ständigen Auseinandersetzungen auch einmal Polizisten mit dem Leben bezahlen müssten. Dann, so der Mann, wird einem offenen, chaotischen Bürgerkrieg nichts mehr im Wege stehen.

Die Weichen, die Macron gestellt hat, führen die Gesellschaft immer weiter in den offenen Konflikt. Von Befriedung keine Spur. Nicht alle Konflikte, wie vor allem jener mit den Abgehängten in den Banlieues, sind aufgrund seiner Politik entstanden. Aber zu keinem der Problemherde hat er etwas anderes zu offerieren als seine neoliberale Agenda und die staatlich organisierte Gewalt. Die Gefahr, die bereits sehr früh, nachdem die Konturen der Politik Macrons sichtbar wurden, beschrieben wurde, dass er den Weg bereitet für den rechtsradikalen Front National (FN), ist durchaus real. 

Chinesische Reissäcke und deutscher Kampagnenjournalismus

Die Zeiten, in denen es hieß, es interessiere nicht, ob in China ein Sack Reis umfalle oder nicht, sind lange vorbei. Die globale Vernetzung der Ökonomie und die Interdependenz politischer Prozesse haben tatsächlich eine Komplexität entstehen lassen, die die pur lokale Betrachtung nahezu ausschließt. Die Darstellung des Weltgeschehens ist anspruchsvoller geworden. Umso beklagenswerter ist der Umstand, dass eben dieser erforderliche Qualitätsschub in der Berichterstattung systematisch verhindert wurde. Es existiert nicht einmal mehr der Anspruch, dieser Komplexität gerecht zu werden. Das mit mangelnder Lese- und Abstraktionskompetenz der Nachrichtenkonsumenten zu begründen, ist bloßer Zynismus.

Nicht, dass sich das Wesen der Zeitungsproduktion geändert hätte. Schon ein Honoré de Balzac wies in seinem bahnbrechenden Roman „Verlorene Illusionen“ daraufhin, dass es beim Pressewesen nicht um die Wahrheit oder geschriebene Qualität, sondern um Verkaufszahlen ginge. Ein Blick auf die Besitzverhältnisse im Pressewesen zeigt eine nie dagewesene Konzentration. Das besonders in Deutschland gepflegte Korrektiv der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat dem Druck, den private Meinungsmonopole erzeugten, nicht standgehalten. Die Ursachen sind vielschichtig. Sie liegen unter anderem im allgemeinen Trend zum Inseratenjournalismus und in der Instrumentalisierung des gesamten Apparates zum Sprachorgan der herrschenden Regierung. Das Resultat ist jeden Tag zu beobachten. Die Qualität in Bezug auf Recherche, Stil und Inhalt ist schlecht und die Dechiffrierung der Komplexität findet nicht statt. Was bleibt, ist ein Substrat, das die Meinung der Auftraggeber widerspiegelt.

Der anfangs zitierte Sack Reis ist wichtiger denn je. Nicht, um die Welt zu erklären, sondern, um von ihren tatsächlichen Funktionszusammenhängen abzulenken. Jeder Tag liefert dafür Belege. Allein an diesem Wochenende wird, abgesehen von den längst bekannten Manipulationschiffren einmal abgesehen, die Selektion der Themen zum Indiz. Im Iran fanden Demonstrationen gegen die Regierung statt. Das ist wichtig und interessant. Die Art, wie darüber berichtet wird, klingt allerdings eher wie eine späte Legitimierung des Drohnenmordes an einem persischen General. Im Irak demonstrierten zur gleichen Zeit über eine Millionen Menschen für den sofortigen Abzug aller US-Truppen aus dem Land. Dazu kommt kein Wort. 

In China ist kein Sack Reis umgefallen, sondern das Coronavirus ausgebrochen. Darüber wird berichtet, allerdings mit dem Zungenschlag, die Regierung täusche vor, das Problem lösen zu können. Wären da nicht deutsche Forscher aus der Berliner Charité, die den überforderten Chinesen helfen würden. Dass in der Provinz Wuhan in einer Woche (!) ein Krankenhaus explizit für diese Herausforderung entsteht, wird nicht zum Anlass genommen, die eigene Unfähigkeit, durch eine ausufernde Kollektion von Vorschriften und eine nicht mehr funktionierende Bürokratie zu beleuchten, zeigt das Muster. Es besteht aus einer Mischung aus Größenwahn und einem schlummernden, von Angst durchtränktem Minderwertigkeitskomplex.

Und die Komplexität eines Phänomens wie dem Klimawandel reduziert der Kampagnenjournalismus auf die Frage des Individualverhaltens eines Promilles der Weltbevölkerung. Dabei handelt es sich um keine Erklärung, sondern um die Herrschaftsfantasie mittelständischer Parvenüs aus der alten Welt.

Und in Frankreich lässt ein Präsident, der hier als der große Hoffnungsträger präsentiert wird, das eigene Volk kontinuierlich von einer außer Rand und Band geratenen Polizei Wochenende für Wochenende brutal zusammenschlagen. Davon erfährt man von den selbst ernannten Qualitätsmedien nichts. Was vermeldet wird, ist, dass „der Franzose“ gerne streikt und es mit der Arbeit nicht so hat. Als Macron Präsident wurde, attestierte man ihm das Prädikat der letzten Bastion gegen die neue Rechte. Wer sich seine Bilanz ansieht, sollte zu dem Schluss kommen, dass er es mit seiner neoliberalen Agenda zur Avantgarde eines neuen Faschismus gebracht hat. Kritische Reflexion? Fehlanzeige! 

Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Liquidatoren dessen, was sich im Allgemeinen als Demokratie in den Köpfen festgesetzt hat, sitzen zu einem profunden Teil in den Institutionen, die die Komplexität der Welt erklären sollen. 

Das Brot ist das Recht des Volkes!

Der Druck der wirtschaftsliberalen Globalisierer wächst. Die Staatskrisen, die momentan in Großbritannien wie in Frankreich zu beobachten sind, haben ihre Ursache in diesem Druck. Die Vehemenz, mit der nach Lösungen gerungen wird und die sozialen Verwerfungen, die diese Ansätze nach sich ziehen und noch nach sich ziehen werden, deuten darauf hin, dass es sich um so etwas wie das letzte Gefecht um das Ende der europäischen Zivilisation handelt. Die Barbaren, die es bedrohen, sind die Propagandisten für die Entstaatlichung, für eine gesetzlich nicht faßbare Internationalisierung und den kostenlosen Zugriff auf Menschen und Ressourcen.

In Großbritannien, das sich übrigens nie zu Europa zählte, während der eigenen Weltherrschaft alles aus sich heraus definierte und seit dem 20. Jahrhundert hoffte, als natürlicher Verbündeter des neuen Imperiums, den USA, in dessen Windschatten zu segeln, ist die selbst gewählte Option eine Verzweiflungstat. Als Steuer- und Finanztransaktionsparadies erhoffen sich die konservativen Kräfte mit ihrem immer noch weltumgreifenden Beziehungsgeflecht die Chance auf das Überleben. Im Land der Industrialisierung findet selbst kaum noch Wertschöpfung statt. Darin einen Vorteil zu sehen, zu dieser Einsicht kann nur der Abusus des Opiums führen, mit dem man in früheren, glorreichen Zeiten andere Völker unter die Knute zu zwingen suchte. So traurig es ist, der erste Friedhof der europäischen Zivilisation ist westlich vom Kontinent bereits zu besichtigen. Daran wird ein Brexit nichts ändern.

Der französische Beau des Neoliberalismus, Emmanuel Macron, hat es seinerseits mit dem alt bekannten Rezept versucht: Deregulierung, Abbau von Subventionen und Austeritätspolitik. Die Quittung seitens der Bevölkerung hat er in den letzten vier Wochen bekommen. Nun macht er Zugeständnisse, 100 Euro mehr Mindestlohn, keine Besteuerung von Überstunden und die Rücknahme der erhöhten Besteuerung des Benzins. Alles Maßnahmen, die aus der Feder des IMF stammen könnten, gekontert von einer Wucht, wie sie Europa in den letzten Dekaden nicht gesehen hat. Ob sich die Bewegung davon blenden lässt, ist anzuzweifeln, zu tief sitzt das bereits lange andauernde Gestochere im Fleisch des Elementaren. Eine schlechte Infrastruktur, eine grausame Vernachlässigung des ländlichen Raums, ein maroder Zustand der öffentlichen Bildung und das ständige Sinken der Möglichkeit kultureller Teilhabe haben Teile des Landes pauperisiert, als läge es im Norden Afrikas. Cherie Macron wird noch einiges erleben, und vielleicht sind es, wie so oft, Signale, die aus den Pariser Straßen in andere Teile des Kontinents gehen, aus denen mehr werden kann. Vielleicht regt sich noch einmal das kollektive Gedächtnis des Kontinents, bevor es dominiert wird von Hütchenspielern zweifelhafter Substanz.

In Deutschland ist hingegen gerade der wohl dreisteste Coup der wirtschaftsliberalistischen Fraktion gescheitert. Dort sollte ein Geschäftsführer aus den eigenen Reihen direkt die Regierungsgeschäfte übernehmen. Auf diese Idee war man weder in GB noch in Frankreich gekommen, aber die Schoßhündchenmentalität der so genannten Atlantiker scheint Dinge möglich zu machen, die andernorts selbst in der größten Krise als der helle Wahnsinn erscheinen. Aber so ist es in Germanistan, das Monströse ist die Kombination von technologischer Hochkompetenz und politischem Analphabetismus. Da kann nur gehofft werden, dass andere Länder vormachen, wie eine Entwicklung gestoppt und umgekehrt werden kann, die alles dem Erdboden gleich macht, was den Menschen und ihren sozialen Arrangements lieb und teuer ist. Saint-Just: Le pain est le droit du peuple! Das Brot ist das Recht des Volkes! Schauen wir nach Westen und erinnern uns!