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Wir sind alle Royalisten!

Es war zu erwarten. Sollte die alte Dame irgendwann das Zeitliche segnen, würden sie den Äther erobern. Die Nachrufe, die Resümees, die Schmonzetten, und, um nicht das Wichtigste zu vergessen, der große Konditor würde erscheinen und über alles den berühmten Zuckerguss reichlich aus seiner riesigen Tube drücken. Dass das englische Königshaus und die verstorbene Queen selbst aktiv an den Arrangements teilnehmen würden, wird klar, wenn man sich das ganze Szenario anschaut. Da ist nichts dem Zufall überlassen, da fehlt es nicht an modernster PR, an traditionellen Zeremonien und nicht an der dramaturgischen Würze. Jeder Satz sitzt: London Bridge down! 

Dass der deutsche Sonderweg soweit führen würde, dass sich nicht nur die Medien in einer nicht mehr zu ertragenden Verklärung der Monarchie wiederfinden würden, was angesichts ihres dramatischen Abstiegs zu erwarten war, sondern dass auch die gesamte politische Klasse sich als Konsortium von Royalisten outete, zeigt wieder einmal, wie wenig demokratische Substanz personell wie institutionell vorhanden ist. 

Man muss kein Revanchist, kein Misanthrop und auch kein einfach unliebsamer Zeitgenosse sein, um angesichts des Todes einer betagten Dame, die sich zu benehmen wusste, dennoch in der Lage zu sein, zwischen dem persönlichen Schicksal und der Rolle der britischen Krone zu differenzieren. Dass letztere das noch verbliebene Signet eines Empire ist, welches lange Zeit als global mächtigste Kraft von Kolonialismus und Imperialismus galt, unter dessen Flagge nicht nur unzählige Verbrechen begangen wurden, von der Versklavung, vorsätzlichem Mord, über die Landnahme bis hin zum organisierten Drogenhandel, auf diese Idee kam niemand. Warum auch, das Narrativ des Kolonialismus feierte lange Zeit nicht so fröhliche Urstände wie gegenwärtig. Zwar mit neuem Vokabular, von der Substanz her jedoch unverändert.

Bei den ununterbrochenen Elogen auf das britische Königshaus habe ich es mir gegönnt, mir vorzustellen, was bei derartigen Ausführungen wohl Menschen aus Indien, China, Malaysia oder dem südlichen Afrika gefühlt haben mögen? Und was sie über einen Westen denken, der sich mit Loyalitäts- wie Royalitätsbekundungen gegenseitig zu überbieten suchte? Wenn ich raten darf, mehr als Ekel und Verachtung wäre wohl nicht zu erwarten. Den versammelten Opfern geht es nämlich so, wie es Ossip Mandelstam bei einem Interview mit einem jungen Mann in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erging. Dieser verzog bei dem Begriff der westlichen Zivilisation jedesmal angeekelt sein Gesicht. Damals, bei dem Interview in Moskau, hieß er noch anders. Später wurde er weltbekannt unter dem Namen Ho Chi Minh.

Aber, wie sollte es anders sein, alles, was stattfindet, ist ausschließlich die Sicht aus der eigenen, wie auch immer verzerrten Perspektive. Die ganzen Phrasen von gleicher Augenhöhe, Empathie, Achtsamkeit und Respekt, die auf jedem Kindergeburtstag eines bestimmten Milieus bis zum Erbrechen vorgetragen werden, haben für die internationalen Beziehungen, die der alte und neue Kolonialismus pflegt, keine Bedeutung. Da wird regelbasiert vorgegangen. Und die Regeln stellt nur einer auf. Wo kämen wir sonst hin? Und wer da nicht mitmacht und Hipp Hipp Hurra schreit, dem wird das Lachen noch vergehen!

Und wie so oft, endet bei mir eine kurze Betrachtung, die aus Unverständnis und Kritik aufgrund der Umstände begann, dann doch mit einer mandelbitteren Note der Satire. Diese stammt von unserem Finanzminister, der die Verstorbene als eine Ikone des Liberalismus bezeichnete. Wie heißt es doch auf der Straße? Der war gut!

Gimmie Shelter!

Gimmie Shelter! Betrachtet man die europäische und deutsche Außenpolitik im Zusammenhang mit dem zum Krieg gediehenen Konflikt zwischen Russland und den USA, dann kristallisiert sich eine Linie heraus, die keine ist: kein roter Faden, keine Strategie, sondern im jeweils falschen Moment zu lax, oder zu hart, in der Wahl der Waffen immer vor dem falschen Schrank, in Bezug auf die eigene Glaubwürdigkeit tief in der Kanalisation der eigenen Verstrickungen versunken. 

Während hier, in unseren Breitengraden, mit allen Mitteln versucht wird, das eigene Desaster auch noch als Erfolg zu verkaufen, sind in allen anderen Regionen der Welt die Würfel des Urteils bereits gefallen. Und das lautet: Mit euch nicht! Da hat die Einladung von wichtigen Staaten der südlichen Hemisphäre nach Schloss Elmau nichts genutzt. In eine Koalition gegen Russland ließen sie sich, auch trotz der Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten, nicht zwingen. 

Der Krieg, der bislang nur propagandistisch, finanziell und waffenlogistisch seitens der EU gegen Russland geführt wird, dient nicht der Verteidigung der liberalen Demokratie. Da ist das ukrainische Volk das Opfer, dass in eine Stellverteterauseinandersetzung anstelle der USA selbst gezogen wurde. Selbiges trifft auch auf die EU und besonders Deutschland zu, das mit einer Abteilung in der gegenwärtigen Regierung die vitalen eigenen Grundlagen der Existenz als Industriestandort mutwillig zerstört und bis heute nicht daran gehindert wird.

Wenn der hiesige Wirtschaftsminister, eskortiert von der aggressiven Tröte aus dem Brüsseler Hauptquartier, davon sprach, man müsse so schnell, wie möglich auf den Import auf russisches Gas verzichten, um „Putin“ die Möglichkeit zu nehmen, den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren, dann ist das mit normalem Menschenverstand nicht mehr zu erklären. Denn Erdgas ist eine rares Gut, das weltweit begehrt wird. Wenn ein Käufer auf die Lieferungen verzichtet, dann stehen andere bereits an, um ihrerseits das Geschäft zu machen. 

Wenn dann noch die bestehenden Lieferungen darunter leiden, dass Wartungsarbeiten nicht möglich sind, weil die notwendigen Ersatzteile unter die Sanktionsbestimmungen gegen Russland fallen, dann hat man alles für den bedenklichen Status quo getan. In diesem Kontext von einer politischen Erpressung seitens Russlands zu sprechen, ist die dümmst denkbare Ausrede eines Verwirrten. Dass diese Version bis zum Überdruss von der etablierten Qualitätspropaganda wiederholt wird, zeigt, dass der grassierende politische Dilettantismus und die herrschende Berichterstattung darüber unter einer Decke stecken.

Dort, wo sich der Großteil der Weltbevölkerung aufhält, wird die zunehmende europäische Verwirrung in Bezug auf die Einschätzung der globalen Konstellation mit zunehmend mit Sorge und Amüsement betrachtet. Mit Sorge, weil die Handelnden anscheinend außer Krieg keine Optionen mehr in ihren hysterisierten Köpfen haben. Mit Amüsement, weil sie die von dort aus verübten Gräuel der Kolonialismus und Imperialismus mitnichten vergessen haben. Wenn sich die EU und ihre Meinungsführer heute so über den Bruch des Völkerrechts durch andere aufregen, dann führt das auf dem Rest des Globus zu schallendem, aufgrund der eigenen Erfahrungen jedoch etwas bitteren Gelächter. Wer das nicht glaubt, dem sei empfohlen, sich in den Publikationsorganen der übrigen Welt etwas umzuschauen. Von der Jakarta Post bis zur La Nación aus Buenos Aires, von der Times of India bis zur Cape Time in Kapstadt – das, was uns hier von der Welt erzählt wird, findet aus anderer Perspektive auch anders statt. 

Und es entspricht jenen Zuständen, die nur noch als ein Isolationismus eines überforderten Konsortiums beschrieben werden kann, dass es immer weiter bergab geht mit einem Projekt, das einmal so vielversprechend begann. Politik ändern, Personal austauschen? Gimmie Shelter! 

Export westlicher Werte?

Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung sind die Gesellschaften, die sich der Entfaltung des Individuums verschrieben haben, mit ungefähr einem Zehntel zu beziffern. Das heißt nicht, dass im Rest der Welt der Einzelne und seine individuellen Rechte und Möglichkeiten keine Rolle spielen. Aber es bedeutet, dass bei 90 Prozent der Weltpopulation eine Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, wie immer dieses auch kulturell definiert ist, eine größere Rolle spielt als in den puristisch individualisierten Gesellschaften. Die Perspektive ist deshalb von Bedeutung, weil sie die mentalen wie quantitativen Kräfteverhältnisse in der Welt beleuchtet und die Frage aufwirft, ob es den politischen Systemen, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen, die Möglichkeit besitzen, dem überwältigenden Rest der Weltpopulation die eigenen Vorstellungen näher zu bringen, geschweige denn sie von der Überlegenheit des eigenen Systems zu überzeugen. 

Historisch hat es das immer wieder gegeben. Wirtschaftlich starke politische Gebilde, die nach Hegemonie strebten, die allerdings auch ständig humane und natürliche Ressourcen brauchten, um andere zu dominieren, vor allem wenn sie aufgrund der eigenen Verfügbarkeit von Potenzialen diesen Anspruch ohne Expansion nie hätten einlösen können. Das ging von Alexander dem Großen über das Römische Reich bis zum britischen Kolonialismus, seinen europäischen Derivaten und dem modernen Imperialismus. Das ideologische Transportmittel für die Expansion reichte vom Wissen um den richtigen Gott bis hin zu dem Argument der Überlegenheit der eigenen Zivilisation und dem damit verbundenen politischen System. Der Ideologie, d.h. der Begründung der eigenen Überlegenheit folgten immer gewaltsames Handeln und Krieg. 

Dass ausgerechnet die Teile der Welt, die heute nicht den Individualismus als zentrales Thema ihrer gesellschaftlichen Existenz begreifen, auf ein unendliches Journal der eigenen Ausplünderung und Demütigung durch die zivilisatorisch begründeten Imperien verfügen, führt zu der Gewissheit, dass sich dort die Faszination westlicher Ideale in Grenzen hält. In Russland blickte gerade eine Nation auf den letzten Feldzug aus dem Westen mit eigenen 27 Millionen Opfern zurück, in China weiß jedes Kind, wie Hongkong als Folge eines von Großbritannien geführten Opiumkrieges in britische Hände kam, der Kongo blickt auf Sklaverei, Kinderhandel, Ressourcenraub und Mord an eigenen Politikern zurück, die die eigenen Interessen vertreten wollten, genauso wie der Iran und zahlreiche Länder in Südamerika, in Indonesien richtete die Sicherung der westlichen Suprematie ein Blutbad mit mehr als zwei Millionen Toten an und in Indochina sind die Folgen der letzten Kriege in jeder Familie präsent. Die Liste ist nicht nur lang, sondern sie illustriert die Hypothek, die sich der selbst als Zivilisationsmacht sehende Westen in Jahrhunderten erarbeitet hat.

Wer in diesem Kontext glaubt, durch die Berufung auf die eigenen Werte, die übrigens durch das Anwenden doppelter Standards aktuell täglich kontaminiert werden, im Rest der großen, weiten Welt Punkte sammeln zu können, ist ein Opfer sensorischer Isolation und eines als pathologisch zu bezeichnenden Subjektivismus. Und wer dann noch der Auffassung ist, dass notfalls die reklamierten Werte durch martialisches Gebaren, Anwendung von Gewalt und Kriege in die des Kolonialismus und Imperialismus überdrüssigen Länder dieser Welt transportiert werden könne, hat seine Zurechnungsfähigkeit eingebüßt. Die Mordlust des Kolonialismus ist entlarvt und die Schätze, die immer wieder zu solchen Manövern locken, liegen nicht mehr ungeschützt in der Sonne. Wer jetzt auf Beutezug geht, wird sich eine blutige Nase holen, wobei die Metapher verharmlosend ist. 

Es ist ratsam, Bilanz zu ziehen und das Ende der Kolonisierung der Welt zu akzeptieren. Wer jetzt mit dem Säbel rasselt, hat die Gunst der Stunde nicht begriffen. Angesichts der globalen Existenzbedingungen ist das Zeitalter der Kooperation längst angebrochen. Und ohne das große Ganze bleibt selbst dem Individuum das Glück versperrt.