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Deutsche Einheit: Right to be wrong?

Gerade läuft, ganz ohne Inszenierung, Right to be Wrong von Joss Stone und erfüllt den Raum mit einer gar nicht so verbreiteten Einsicht. Bei der Überlegung, was wohl nach drei Jahrzehnten nach der deutschen Vereinigung/Wiedervereinigung/Restvereinigung/Restanschluss und wie es auch immer genannt wird fehlt, drängt sich genau die Botschaft dieses Musikstücks auf. Nach allem, was nach dem großen imperialen Plan und seinem Desaster gefolgt ist, hatte die Möglichkeit, sich auch irren zu können, nie eine Chance. Zunächst durch die Teilung und die Existenz zweier Systeme unmöglich gemacht und dann fortgesetzt durch die Epoche, die unter der Überschrift „Alternativlos“ in die Geschichte eingehen wird, kam nie die Unbefangenheit auf, die herrscht, wenn man weiß, dass Fehler nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich sind. Und sein dürfen!

Und immer wieder herrschte das Mantra „Kein deutscher Sonderweg!“ Wenn es sich auf das Spezifikum eines mystischen, tief aus den dunklen Wäldern Germaniens stammenden anti-zivilisatorischen Impuls handelte, dann und ist diese Warnung sicherlich berechtigt. Wenn es sich aber darum handelt, wie man eine Nation zusammenfügt, wieviel Souveränität dazu erforderlich ist, wie eine Verfassung auszusehen hat, die eine Autonomie sichert, die nicht auf Kosten Anderer zustande kommt, dann muss das nicht der Weg sein, der ins Verderben führt. Und genau das gehört zu dem Kapitel, das immer dann aufgeschlagen wird, wenn es um die ureigensten Angelegenheit derer angeht, die unter der Bezeichnung eines Staatsvolkes in der juristischen Literatur zu finden sind.

Irgend etwas ist schief gelaufen. Und das, was seit den Tagen der Tyrannei, des Überfalls auf andere Länder und der schmutzigen Bündnisse geblieben ist, ist das Dogma. Das Dogma, bei allem, was getan wird, immer auf der richtigen Seite zu sein und allen, die eine andere Auffassung vertreten, zum inneren wie äußeren Feind zu erklären. Wer sich dieses inquisitorischen Instrumentariums bedient, darf sich nicht wundern, wenn aus der Trauer, die aus dem Unverstandensein erwächst, irgendwann Wut wird, die dann zur Arroganz gerinnt und in eiskalter Berechnung endet. 

Hört man die heutigen Reden, dann wird immer wieder die Spaltung der Gesellschaft geleugnet, um sie umgehend mit neuem Material zu befeuern. Das ist die Logik derer, die meinen, sie machten nie Fehler, sie hätten immer Oberwasser und alles bliebe immer so, wie es zur Zeit ist. Dass dem nicht so ist, kann jeden Tag den Nachrichten entnommen werden. Und dass daraus gesellschaftlich nichts gelernt wird, steht ebenfalls täglich in den Zeitungen. Aus dem mit so vielen Hoffnungen behafteten Akteur, der sich vor dreißig Jahren auf der europäischen Bühne zurückmeldete, wurde durch die Logik derer, die die Geschicke getrieben haben, ein Kranker.

Wie kann man diejenigen, die glaubten, zu neuen Ufern aufzubrechen, das Trauma nehmen, das sie erlebten, als sie begannen zu glauben, in der alten Welt wieder aufzuwachen? Und wie kann man denen, die längst geglaubt hatten, auf der Himmelsleiter bereits zu wandeln, das Entsetzen entreißen, dass sich bei einem tatsächlichen Abstieg einstellte? 

Es sind zwei Dinge, die vielleicht Heilung versprechen könnten: Tatsächliche Souveränität und das Recht, Fehler machen zu dürfen. Beides ist teuer, sehr teuer. Doch wer den Preis nicht zahlen will, der hat auch nichts zu beklagen. 

Wir sind alle Royalisten!

Es war zu erwarten. Sollte die alte Dame irgendwann das Zeitliche segnen, würden sie den Äther erobern. Die Nachrufe, die Resümees, die Schmonzetten, und, um nicht das Wichtigste zu vergessen, der große Konditor würde erscheinen und über alles den berühmten Zuckerguss reichlich aus seiner riesigen Tube drücken. Dass das englische Königshaus und die verstorbene Queen selbst aktiv an den Arrangements teilnehmen würden, wird klar, wenn man sich das ganze Szenario anschaut. Da ist nichts dem Zufall überlassen, da fehlt es nicht an modernster PR, an traditionellen Zeremonien und nicht an der dramaturgischen Würze. Jeder Satz sitzt: London Bridge down! 

Dass der deutsche Sonderweg soweit führen würde, dass sich nicht nur die Medien in einer nicht mehr zu ertragenden Verklärung der Monarchie wiederfinden würden, was angesichts ihres dramatischen Abstiegs zu erwarten war, sondern dass auch die gesamte politische Klasse sich als Konsortium von Royalisten outete, zeigt wieder einmal, wie wenig demokratische Substanz personell wie institutionell vorhanden ist. 

Man muss kein Revanchist, kein Misanthrop und auch kein einfach unliebsamer Zeitgenosse sein, um angesichts des Todes einer betagten Dame, die sich zu benehmen wusste, dennoch in der Lage zu sein, zwischen dem persönlichen Schicksal und der Rolle der britischen Krone zu differenzieren. Dass letztere das noch verbliebene Signet eines Empire ist, welches lange Zeit als global mächtigste Kraft von Kolonialismus und Imperialismus galt, unter dessen Flagge nicht nur unzählige Verbrechen begangen wurden, von der Versklavung, vorsätzlichem Mord, über die Landnahme bis hin zum organisierten Drogenhandel, auf diese Idee kam niemand. Warum auch, das Narrativ des Kolonialismus feierte lange Zeit nicht so fröhliche Urstände wie gegenwärtig. Zwar mit neuem Vokabular, von der Substanz her jedoch unverändert.

Bei den ununterbrochenen Elogen auf das britische Königshaus habe ich es mir gegönnt, mir vorzustellen, was bei derartigen Ausführungen wohl Menschen aus Indien, China, Malaysia oder dem südlichen Afrika gefühlt haben mögen? Und was sie über einen Westen denken, der sich mit Loyalitäts- wie Royalitätsbekundungen gegenseitig zu überbieten suchte? Wenn ich raten darf, mehr als Ekel und Verachtung wäre wohl nicht zu erwarten. Den versammelten Opfern geht es nämlich so, wie es Ossip Mandelstam bei einem Interview mit einem jungen Mann in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erging. Dieser verzog bei dem Begriff der westlichen Zivilisation jedesmal angeekelt sein Gesicht. Damals, bei dem Interview in Moskau, hieß er noch anders. Später wurde er weltbekannt unter dem Namen Ho Chi Minh.

Aber, wie sollte es anders sein, alles, was stattfindet, ist ausschließlich die Sicht aus der eigenen, wie auch immer verzerrten Perspektive. Die ganzen Phrasen von gleicher Augenhöhe, Empathie, Achtsamkeit und Respekt, die auf jedem Kindergeburtstag eines bestimmten Milieus bis zum Erbrechen vorgetragen werden, haben für die internationalen Beziehungen, die der alte und neue Kolonialismus pflegt, keine Bedeutung. Da wird regelbasiert vorgegangen. Und die Regeln stellt nur einer auf. Wo kämen wir sonst hin? Und wer da nicht mitmacht und Hipp Hipp Hurra schreit, dem wird das Lachen noch vergehen!

Und wie so oft, endet bei mir eine kurze Betrachtung, die aus Unverständnis und Kritik aufgrund der Umstände begann, dann doch mit einer mandelbitteren Note der Satire. Diese stammt von unserem Finanzminister, der die Verstorbene als eine Ikone des Liberalismus bezeichnete. Wie heißt es doch auf der Straße? Der war gut!

Der Mob und die Lostrommel

Die Liste ist lang. Sehr lang. Bei der Lektüre der Zustandsbeschreibungen des Landes, die zur Zeit kursieren, trifft man auf eine unendliche Abfolge von bitteren Erkenntnissen. Das ist, so kurz vor einer Wahl, ein Indiz dafür, dass alles möglich ist. Unwille, Zorn und Verbitterung sind Gemütsverfassungen, die ein rationales Urteil nicht gerade begünstigen. Folglich ist damit zu rechnen, dass vor allem Emotionen darüber entscheiden werden, ob Menschen zur Wahl gehen werden oder wen sie gewillt sind zu wählen. Die Republik, die sich für viele gar nicht mehr so anfühlt, gleicht einer Lostrommel. Ausgang ungewiss, mit der einzig sicheren Prognose, dass aus solchen Gefäßen nur wenige Gewinne und sehr viele Nieten gezogen werden.

Fragt man die Menschen auf den Straßen, dann beklagen sie, vor allem im Hinblick auf die nicht enden wollende Abfolge von Krisen, dass von dem ehemalig vermuteten und teils auch beobachtbaren Organisationstalent nicht mehr viel übrig geblieben ist. Eine sich zunehmen welt- und lebensfremd generierende Bürokratie agiert langsam, umständlich und überfordert, in den politischen Ämtern sind kaum noch Menschen zu finden, die gewillt sind, Verantwortung zu übernehmen, dort, wo einmal der Pioniergeist herrschte, hat sich ein lauwarmer Geist der Absicherung, des Opportunismus und der Gefallsucht breit gemacht, dort, wo der Finger auf die Wunden gelegt wurde, in Presse und Medien, leiert das Band der Rechtfertigung, Unternehmen, die den Globus eroberten, meiden das Risiko und treffen konformistisch ihre Entscheidungen und dort, wo gute Ideen den Unterschied machen könnten, findet sich kein Investor mehr.

Stattdessen folgt man einer Schimäre nach der anderen, Hauptsache, sie kaschiert die eigene Verantwortung und Unzulänglichkeit. Mal sind es Skeptiker im eigenen Land, mal sind es Bösewichter am so genannten Rande der EU, mal ist es Russland, mal China, mal ein amerikanischer Präsident und mal in störrisches Inselvolk im eigenen Westen. Der Zorn, der sich jedesmal entlädt, ist das Ventil, das gebraucht wird, um der Verzweiflung eine Richtung zu geben. Vieles entspringt vielleicht sogar der eigenen, inneren Überzeugung, aber es führt mit Sicherheit zu einem erneuten Zustand eines neuen deutschen Sonderweges, der sich vor allem über die eigene, nicht vorhandene Überlegenheit stützt. Dass allein die Frage, ob das gut gehen kann, dazu führt, von der größten lokal existierenden Echokammer mit dem Vorwurf der Brunnenvergiftung konfrontiert zu werden, dokumentiert nicht nur, wo man gesellschaftspolitisch wieder unrühmlich gelandet ist, sondern auch, dass der Glaube an eine schnelle, zumindest mentale Wende aus der Misere eine Illusion bleibt.

Wie war das, in der jüngeren Geschichte, wenn Staatsoberhäupter und die ihnen unkritisch folgende Entourage solche Slogans bemühten, die mit den folgenschweren Sätzen begannen „Immer weiter, immer weiter“? Zumeist dauerte es nicht lange, sondern es ging überraschend schnell, dass ihr Kartenhaus zusammenbrach und nichts mehr übrig blieb von der ganzen Konstruktion. 

Und wie unglaublich ist die Verblendung, wenn jetzt diejenigen, die bei den nächsten Wahlen ein Mandat anstreben, glauben, sie könnten aus den letzten Krisen, die allen noch in den Gliedern stecken, weil so vieles deutlich machte, dass da mit einer falschen Perspektive und einer fragwürdigen Haltung gearbeitet wurde, noch profitieren? Der Mob, von dem sie sich in ihrer Lebensweise distanziert haben und von dem die Mandate vergeben werden, der will wissen, wie die Zukunft aussieht. Ohne Wenn und Aber, einfach nur Klartext. Keine einzelnen Maßnahmen, die sich auf das Zurückblickende beziehen. Wer das glaubt, hat sich elementar getäuscht.