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In welcher Hölle willst du leben?

Warum noch versuchen, Argumente auszutauschen, wenn alles nur noch auf Senden steht? Die Empfänger sind abgeschaltet, was zu vernehmen ist, endet in einer ohrenbetäubenden Kakophonie. Alle sind sich sicher, dass sie auf der richtigen Seite schreien, man bezichtigt sich gegenseitig in der Gesellschaft des Satans. Die Voraussetzungen sind bestens, um in der Katastrophe, im Desaster, in der Apokalypse zu enden. Wer nicht hören will, so sagte einmal ein kluger Volksmund, muss fühlen. Das wird so kommen, wie das brüchige Amen in der leeren Kirche. Mental, so kann geschlussfolgert werden, sind wir alle am Ende. Denn das, was den Homo sapiens in Glanzzeiten einmal auszeichnete, der Verstand, die Vernunft, der gemeinsame Überlebenswille, ist gewichen der endzeitlicher Gier, asozialem Egoismus und grenzenloser Allmachtsphantasie. Ein alter bayrischer Freund würde die Lage so zusammenfassen: Irrenhaus, dein Name ist Menschheit.

Auch wenn mich seine grotesken Formulierungen immer wieder inspirieren; ganz so einfach ist es natürlich nicht. Aber, wie bereits erwähnt, ein Rückblick auf die Entwicklungen, ihre Analyse und die Suche nach Kausalität führen im Moment zu nichts. Keiner will es hören, und alle sind Partei der einen oder der anderen Seite. Wie so oft, wenn sich die Apologetik in einem Moment der allgemeinen Verwirrung die Krone aufgesetzt hat, die Dialektik, dieser Schlüssel zu vielen möglichen Lösungen, ist von den Prachtstraßen verbannt und lauert in einem düsteren Keller. Sie wartet, bis die klobigen Parteigänger in ihrem martialischen Gehabe nicht nur sich selbst, sondern auch das anfangs wie ein pawlow´scher Hund konditionierte Gefolge ermüdet haben. Dann drückt sie die Stäbe auseinander, atmet tief durch und erscheint auf dem Feld.

Sie deutet auf die Szenerie und macht zunächst einmal klar, dass die Kategorien von Täter und Opfer fließend sind. In einem Krieg wechseln sie stündlich. Alle Beteiligten sind sich einig, dass sie Opfer sind und nur das tun, was gerecht ist. Dass sie ebenfalls die Tätermonster sind, möchten sie verschweigen, aber es ist die reine Illusion. Der Krieg könnte nicht nur, nein, er sollte bis ans Ende der humanen Existenz geführt werden, wenn es nach den Belegen ginge, die jede Seite mit Fug und Recht für das Täterhafte des Gegenübers dokumentieren kann. Und dann? Jeder, der darüber nachdenkt, gilt im Moment als Deserteur, als Defätist oder gar als fünfte Kolonne. Doch das Blatt wird sich wenden. Das einzige, was sich bis dahin ändern wird, ist die Dimension dessen, was von den Scharlatanen, die das Desaster zu verantworten haben, so gerne als Kollateralschaden bezeichnet wird: Tote und die formalen Nachweise von Zivilisation.

Oder eine andere Herangehensweise: ein französischer Regisseur aus dem Underground, dessen Name hier nicht genannt werden soll, quasi aus Zeugenschutz, lieferte vor kurzem eine Analyse über den Unterschied zwischen dem freien Westen und Russland, die es in sich hatte. Im Westen, so der kluge Mann, sei alles erlaubt, aber nichts von Bedeutung. Und in Russland sei nichts erlaubt, dafür hätte aber alles eine Bedeutung. Vielleicht trifft diese Aussage den Kern der Misere. Denn, wie soll eine Kommunikation zwischen diesen Welten möglich sein, wenn der mentale Horizont von diesem Unterschied geprägt wurde. 

Die kalte Logik würde dafür plädieren, eine Symbiose zu bilden, die besagte, dass einiges, aber nicht alles erlaubt wäre und dafür einiges Bedeutung genösse. Das könnte eine Zukunftsperspektive sein, die allerdings einen strategischen Horizont voraussetzte. Oder, bliebe es beim Status quo, reduzierten sich die Optionen auf die Frage: in welcher der beiden Höllen willst du leben? 

Ein Plädoyer für die humane Erzählung

Ein Mantra, das sich verbreitet hat, lautet, die Welt sei zu komplex geworden, als dass sie einfache Antworten zulasse. Dagegen ist generell nichts zu sagen, denn jede Erscheinung, die mit unterschiedlichen Kausalitäten verbunden ist sich in einem Netz von Interdependenzen befindet, muss gründlich analysiert und differenziert beurteilt werden. Was nicht dazu passt, ist die Tendenz der zunehmenden Verarmung der Texte. Nicht, dass es auch Texte gäbe, die schwer zu lesen oder gar unlesbar sind. Es sind jedoch zumeist Konvolute mangelnder Struktur, die als Symptom einer wachsenden Unfähigkeit gelten müssen, gut strukturierte, gedanklich geordnete und sprachlich interessante Schriftstücke zu verfassen. Der Rückschluss ist beklemmend: Die Welt wird komplexer und die Fähigkeit, sie darzustellen, schwindet.

Die Suche nach Ursachen ist nicht schwer. Immer weniger wird von den Menschen, die in den komplexen Strukturen tätig sind, verlangt, dass sie in der Lage sind, die besagten Zusammenhänge schriftlich darzustellen. Stattdessen hat sich ein Modus breit gemacht, der gerade auf die unzulässige Vereinfachung abzielt. Statt wohl dosierter Sätze sind Skizzen, Bilder oder einfache Formeln gefragt, die die besagte Komplexität vereinfachen sollen. Dass gerade diejenigen, die sich auf die Komplexität der Welt berufen, genau dieser Fährte folgen, macht sie nicht glaubwürdiger.

Ist es tatsächlich so einfach, die Reduktion der verschriftlichten Komplexität auf die zunehmende Kommunikation im Maschinenmodus zurückzuführen? In Ansätzen sicherlich. Wenn bereits von jungen Menschen, die erlernen sollten, mit welchen geistigen Werkzeugen sie die Welt erfassen und mit denen sie sich ausdrücken können, nicht mehr darin gefordert werden und es stattdessen zum Alltagsmodus gehört, in fragmentierten Sätzen, gespickt mit Emoji, zu kommunizieren, kann nicht vorausgesetzt werden, sich mit komplexen Texten auseinanderzusetzen zu können. Es geht hier nicht um die Hegel´sche Rechtsphilosophie, aber ein Roman wie Umberto Ecos Foucaultsches Pendel sollte es schon sein. Und diejenigen, die den politischen Diskurs via Amt führen, sollten auch das können, aber auch noch mehr.

Neben der abnehmenden Sprach- und Schreibkompetenz ist zudem zu beklagen, und das ist interessanterweise ein breiter Konsens, dass es dem gesellschaftlichen Diskurs an Narrativen mangelt. Es geht darum, dass Geschichten gewoben werden, die von allen verstanden werden und die die Probleme fokussieren, an denen sich eine Gesellschaft abarbeitet. Politische Kommunikation kann nur dann gelingen, wenn alle wissen, worüber geredet wird und wenn sich ein gemeinsamer Wille entwickelt, an einer Strategie zu arbeiten. Es bedarf der Fähigkeit, diese Geschichten zu weben. Mit bloßen Statistiken und Grafiken ist das nicht zu leisten.

Die hohe Kunst der Erzählung ist es, anhand einfacher Dinge und Begebenheiten die Komplexität der menschlichen Existenz zu verdeutlichen. In der Vergangenheit konnten das einige. Das ganze Ensemble der europäischen Realisten gehörte dazu, ebenso die großen russischen und amerikanischen Erzähler. Sie trugen dazu bei, den Menschen sowohl ihre Epoche zu erklären, ihnen zu verdeutlichen, worauf es ankam und was dem Gestaltungswillen der Menschen unterlag, als auch zu beschreiben, welche menschlichen Aporien nicht einfach durch welche Maßnahmen auch immer aufzulösen sind. Sie trugen dazu bei, auch die politische, die gesellschaftliche Kommunikation in ihren Kultur- und Zivilisationsräumen aufrecht zu erhalten.

Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Erzähler von der Bildfläche verschwunden. Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Politik. Es ist an der Zeit, dem restringierten Maschinencode wieder etwas entgegenzusetzen. Es ist ein Plädoyer für die humane Erzählung.