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Courage auf Ägyptisch

Es wird nicht einfacher und es wird länger dauern, als die Facebook-Analysten das mit ihrem ahistorischen Reflex bereits im Jahr 2011 prognostizierten. Die so genannte Arabellion wird größere Zeiträume beanspruchen als erhofft. Im Vergleich zu dem Weg der europäischen Demokratisierung, dem man gut und gerne ein Zeitmaß von 200 Jahren zuweisen kann,  reden wir immer noch von anderen Dimensionen. Manchmal ist der Zeitraffer auch exzellent dazu geeignet, Komplexität zu reduzieren. Dank einer mutigen, vorwiegend urbanen Protestbewegung und einem patriotischen Militär in Ägypten hat die Demokratisierung der Region noch einmal eine Chance bekommen.

 Die Rebellion gegen das zwar weltliche, aber harte und undemokratische Regime Mubaraks wurde getragen von einer im Lande moralisch sehr geachteten Bewegung der Muslimbrüder und diversen, zumeist städtischen politischen Oppositionsgruppen, die einen neuen Mittelstand und erste Anzeichen einer von der Globalisierung infizierten, aber zahlenmäßig noch kleinen Gruppe der urbanen Intelligenz repräsentierten. Als Mubarak nicht weichen wollte und das Land vor einer Zerreißprobe stand, intervenierte das Militär, zog Mubarak aus dem Verkehr und sorgte für einen geordneten Übergang zu demokratischen Wahlen.

 Die bereits 1928 gegründeten Muslimbrüder, die in den Jahren des Mubarak-Regimes der Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt war, hatten eine Massenbasis, weil sie in Jahrzehnten im Bereich der Kranken- und Notversorgung wie der Bildung Aufgaben übernommen hatten, die seitens des Staates nicht oder unzureichend wahr genommen wurden. Die Muslimbrüder galten als eine eher soziale denn als eine politische Bewegung und das Wahlergebnis, aus dem sie als die eindeutigen Sieger hervorgingen, hatte etwas von einem Dankeschön an das vergangene soziale Engagement.

Die Ägypterinnen und Ägypter, die die Muslimbrüder gewählt hatten, wurden allerdings in multipler Hinsicht ge- und enttäuscht. Sie mussten nämlich feststellen, dass die Chefs der nun dezidiert politischen Bewegung um den derzeitigen Präsidenten Mursi keine Idealisten, sondern kalte Technokraten waren, die die Massenbasis der Muslimbruderschaft zur Machterlangung instrumentalisiert haben und sich weder einer islamischen Moral noch einer demokratischen Tugend verpflichtet fühlen. Das Ergebnis ist eine desaströse politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Und die gegenwärtigen Proteste, an deren Ende wohl mit Unterstützung des Militärs das Ende Mursis stehen wird, werden zu einem entscheidenden Moment in der gesamten arabischen Welt.

 Sollte die Muslimbruderschaft als politisch gescheitert gelten, dann wird auf dem Fuße der Niedergang des Salafismus in Tunesien folgen und die Demokratie abermals die Chance erhalten, etwas Morgenluft zu schnuppern. Deshalb ist damit zu rechnen, das Mursi und sein Technokratenkartell nur unter Zwang am Weiterregieren gehindert werden können. So, wie die Massenproteste in den großen Städten Ägyptens ein wichtiges Signal in andere Länder der Arabellion und der aus dem Selbstverständnis affilierten Türkei senden, spielt auch das Militär eine ungemein wichtige symbolische Rolle. Zumindest in Tunesien könnte die Handlungsweise der ägyptischen Kollegen dazu führen, die taktisch bedingte Duldsamkeit gegenüber einer islamistischen Verrohung des Landes abzulegen und in die militärischen Übungszentren salafistischer Gruppen in den ferneren Wüstengegenden das Licht auszuknipsen.

Die politische Opposition vor allem in Kairo und Alexandria hat sich nicht von der sich formierenden repressiven Nomenklatur der Islamo-Technokraten einschüchtern lassen und trotz einer regelrechten Barbarisierung des politischen Diskurses die Courage nicht verloren. Die Opposition als Ganzes nicht, und die Frauen, für die es nicht um vieles, sondern um alles geht, im Besonderen nicht. Und es bleibt bei der Erkenntnis, dass historische Allianzen aus harten Interessen und dem Dreck des Tagesgeschäfts entstehen, und nicht aus dem Wunsch des reinen Herzens.

Komplexität im nah-östlich arabischen Raum

Reduzierte man das gegenwärtige Machtgefüge in Tunesien lediglich auf das Land selbst, dann wäre alles zwar auch komplex, aber immer noch überschaubar und aus dem Land heraus beeinflussbar. Nach der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich hatten zwei erst patriarchalisch, dann diktatorisch regierende Staatspräsidenten, Bourguiba und Ben Ali, das Land in staatswirtschaftlichen Bahnen geleitet. Korruption und Despotie herrschten, aber auch Sicherheit und Stabilität für ein kleines Land im geographischen Ensemble mit großen Stürmen der Gewalt. Dennoch hielt der antiquierte und despotische Herrschaftsstil Ben Alis nicht den zunehmend massiver werdenden Einflüssen der Moderne stand. Eine anwachsende Mittelschicht, die von unternehmerischem Denken geprägt war und in der die Frauen immer selbstbewusster in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eingriffen und ein anwachsendes junges akademisches Proletariat, das als Ergebnis der Landflucht zu werten ist, stanzten die Sargnägel für das alte Regime.

Als dann, nach der Flucht Ben Alis, quasi über Nacht die Möglichkeit für die Demokratie vor der Tür stand, existierten keine in demokratischen Konkurrenzprozessen heraus gebildete Parteien. Mit der Ennahda bekam eine muslimische Vereinigung bei den ersten Wahlen die Mehrheit. Ihre Referenz war die Verfolgung durch Ben Ali, ihre Mildtätigkeit und Unbestechlichkeit. Die Tunesierinnen und Tunesier, vor allem aus Mittelschicht und akademischem Proletariat, schluckten diese religiöse Kröte mangels Alternative und unter der Prämisse, dass die ersten Wahlen die Regierung ausschließlich damit beauftragt hatten, eine Verfassung zu erarbeiten.

Die muslimische Mehrheit hat im verfassungsgebenden Prozess einzig und allein die Karte gespielt, die Prinzipien der Scharia in das Recht der neuen Demokratie zu gießen. Alles andere, vom Nepotismus bis zur Korruption, hätte die Opposition der Ennahda verziehen, dieses jedoch nicht. Folglich ist es umgekehrt nicht verwunderlich, wenn die extremen Vertreter des Islamismus den schärfsten Kritiker der Vermischung von Religion und Staat auf offener Straße hingerichtet haben.

Die Massenbasis der radikalen Kräfte kommt vom Land, die Masse der tunesischen Jugend, die mehr als fünfzig Prozent der Stadtbevölkerung ausmacht, verspürt keine Anziehung durch die islamistische Renaissance. Das Militär, seinerseits historisch zwar anti-kolonial, aber in der weltlichen Tradition einer bürgerlichen französischen Armee sozialisiert, bekennt sich zum Islam als kultureller Basis des Landes, hat aber kein Interesse an einer fundamentalistischen Gewaltpolitik.

Die rein nationale Arithmetik der Machtverhältnisse würde in Tunesien zu dem Ergebnis kommen, dass eine bürgerliche, weltliche, aber dennoch traditionell verhaftete Politik die weitere Zukunft des Landes bestimmten. Wäre da nicht eine anwachsende nah-östliche und arabische Komplexität, die das Denken sowohl der Fundamentalisten wie der Militärs beeinflusste. So genannte Achsenbemühungen, die Konstellationen wie Istanbul-Teheran-Kairo aufscheinen lassen und etwas von persischen und osmanischen Imperialphantasien in sich tragen, verursachen große Verunsicherung bei den möglichen Akteuren. Fast alle hier in Tunesien sind sich einig, dass die Zeit für den islamistischen Fundamentalismus spräche und diesem nur Einhalt geboten werden könne, wenn man ihm schnell und entschlossen begegnete. Das Getöse jedoch, dass gegenwärtig Ahmadinedschad, Erdogan und Mursi veranstalten, suggeriert das Zuwarten als Besonnenheit.

Es wird zudem deutlich, dass auch in Tunesien das Politikmodell zu greifen droht, welches sowohl in der Türkei als auch in Ägypten bereits gegriffen hat: Die Herrschaft von Technokraten, die den Islam als Instrument benutzen, um ihre Ziele in ihren Ländern politisch durchzusetzen.

Sternstunden am Nil

Wenn Regierungen stürzen, lässt das nur in seltenen Fällen die Gemüter kalt. Dort, wo die Umwälzung stattfindet schon gar nicht, und aus der Ferne wissen wir spätestens seit Goethe, dass nichts trefflicher geraten, als nach einem Sonntagsbraten beim Spaziergang zu beraten über den Krieg in der Türkei. Manchen, so könnte man hinzufügen, fördert die Unruhe in anderen Ländern gar die Verdauung, andere wiederum flößt sie großes Unbehagen ein, weil sie generell den Gedanken eines Volksaufstandes unerträglich finden.

In Kairo, dem Ort, an dem zur Zeit Hunderttausende auf den Straßen sind, um eine verhasste Regierung fortzujagen, ist das Gefühl am intensivsten, weil es in vielen Fällen schlicht um Sein oder Nichtsein geht. Wer aufsteht gegen ein autoritäres Regime, der hat seine Protektion und Sicherheit aufgegeben. Diese Menschen sind mutig und sie haben, um eine Formulierung aus der globalisierten Welt zu gebrauchen, den Tipping Point überschritten. Es handelt sich dabei um den kritischen Punkt, der die Abwägung zwischen Risiko und Nutzen bezeichnet. Menschen, die diesen Punkt passiert haben, räsonieren nicht mehr über sich selbst. Ihnen geht es nur noch um ihr Ziel und der Nachwelt erscheinen sie nicht selten als Märtyrer.

Eine andere Seite von Revolten sind die in unseren herzlosen Zeiten genannten Kollateralschäden. Um das politische Ziel zu erreichen, setzen Herrschende wie Aufständische nicht selten gewaltsame Mittel ein. Dabei geht mitunter einiges zu Bruch: mal brennt das Parlament, mal sind es Kaufhäuser, die geplündert werden, mal Villenviertel und mal Museen. Vor allem dort, wo die Armut groß ist, gehören Plünderungen zur politischen Unruhe, was nicht verwundert, eröffnen sie doch die Möglichkeit, für einen wenn auch kurzen Zeitraum der dringendsten Nöte entbunden zu sein. Menschlich ist das verständlich, politisch trägt es in der Regel zu der schlechten Referenz von Revolutionen bei, denn mit den Plünderungen wächst das Attribut der Zerstörung.

Aber auch Herrscher haben es bei Auseinandersetzungen durchaus vermocht, großen Schaden zu hinterlassen, wenn sie absehen konnten, dass ihre Sache verloren war. Dann folgten sie nicht selten dem Prinzip der verbrannten Erde und zerstörten alles, was den Rebellen hätte nützlich sein können.

Gegenwärtig, in Kairo, ist es noch nicht entschieden, wie der Kampf zwischen verbittertem Volk und knochenhartem Herrscher ausgehen wird. Angesichts der Machtstruktur in Ägypten ist es klar, dass die Seite, zu der sich das Militär gesellen wird, auch die Oberhand gewinnt. Momentan, so sagt man, verhält sich das Militär noch neutral und beobachtet die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Polizei. Jedoch hat das Militär eigentlich schon Partei ergriffen, denn vor dem Ägyptischen Museum, in dem unschätzbare Werte für Menschheit wie Volk geborgen sind, stehen waffenstarrend Soldaten und Panzer, um sie zu schützen. Das ist ein Bekenntnis zum Volk, wie es schöner nicht zum Ausdruck gebracht werden kann!