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Ultima Thule

Als sich der griechische Entdecker Pytheas im vierten Jahrhundert vor Christus von Masilia, dem heutigen Marseille, aufmachte, um weit in den Norden vorzudringen, ging er noch davon aus, dass der Welt irgendwo Grenzen gesetzt sind. Auf seinem Weg, der nur noch durch Fragmente anderer dokumentiert ist, passierte er auf jeden Fall die britischen Inseln und gelangte irgendwann zu einer Insel, die kurz vor dem Gebiet lag, wo das große Wasser geronnen war, also vor dem Eismeer. Er nannte die Insel Ultima Thule, was man mit „letztes Land“ übersetzen kann. Wie alles, was nicht bis ins letzte Detail dokumentiert werden kann, gelangte auch jene Insel Ultima Thule bald in den Bereich des Mythischen. Und der Mythos ist es, der zuweilen größere Befruchtung der menschlichen Erkenntnis beitragen kann als das schnöde Faktum. Lange hieß es, es handele sich bei dem entdeckten Objekt des Pytheas um eine kleine Inselgruppe vor Grönland, während heute, vor allem durch die Geodäsie, nahezu bewiesen werden kann, dass es sich um die Insel Smøla in der Bucht des norwegischen Trondheim handelte.

Das, was die kalte Geodäsie nun so gefühllos verkündet, hat als Geheimnis die Geister über mehr als zweitausend Jahre inspiriert. Von den Germanen bis zu den Aufklärern, ja sogar bis zum großen Revolutionär der Moderne, James Joyce, plagte die Frage, was dort, am nordischen, dunklen, vernebelten, kalten und doch von Feuern erhellten Ende der Welt wohl zu entdecken sei. Interessant dabei ist, dass, entgegen der späteren Allegorien vom großen Licht, keine einzige Utopie in die Überlieferung von Ultima Thule hineinscheint. Nein, Ultima Thule, das dem Norden vorbehaltene Ende der Welt, blieb das große Fragezeichen. Und einzigartig ist, dass die Faszination davon ausging, dass das große Fragezeichen nicht aufgelöst wurde. Vielmehr interessierte die Menschen, wie der Zustand des großen Fragezeichens wohl aussehen werde und nicht, wie im Zeitalter der schnellen und vordergründigen Antworten angenommen werden könnte, wie es aufzulösen sei.

Der Mythos des Ultima Thule schuf sich seine eigene Aura, weil er ohne Antworten und Erklärungen und ohne Konkretisierungen auskam. Was allerdings inspirierte, war die Frage nach der Atmosphäre. Darüber gab und gibt es sehr viele Dokumente. Wie das Licht dort spielt, wie die Winde tanzen, wie das Meer wogt, wie die große Choreographie des ewigen Nebels aussieht. Das hat die Völker seitdem interessiert und nicht, ob es dort Menschen gibt oder nicht. Man stelle sich das vor, Ein Mythos vom Ende der Welt, der nicht darüber spekuliert, ob menschliches Handeln überhaupt eine Rolle spielt. Der allenfalls eine Idee davon hat, dass das menschliche Handeln dort ein Ende hat.

Der Mythos von Ultima Thule hat den Rang einer höheren Ordnung. Denn er betrachtet die irdischen Angelegenheiten aus einer Perspektive, die keiner Menschen bedarf. Das ist, aus heutiger Sicht, starker Tobak. Und jenseits der ewig Umnachteten, die sich aus Unverständnis und Ignoranz heute als Gesellschaften mit dem Namen Thule schmücken und ihren archaischen und verächtlichen Phantasien frönen, ist die Idee von einer menschenfreien Utopie vielleicht das Intelligenteste, was heute wieder einmal auf dem gedanklichen Plan stehen könnte. Stellen wir uns das Ende der Welt ohne Menschen vor. Das wäre eine Überlegung wert. Vielleicht hülfe sie den Menschen?

Die Komplexität moderner Metropolen

Die moderne Metropole hat sie alle herausgefordert. Die beste Dokumentation über die Vielschichtigkeit der großen Stadt sind die Romane, die durch sie inspiriert wurden. Alles, was die Polis der Moderne auszeichnet, fand in den großen Romanen, die sich an ihr versuchten, statt. James Joyce, der doch die scheinbar übersichtliche Metropole Dublin zum Gegenstand nahm, entschied sich dennoch, ihre Komplexität im Inneren der Akteure stattfinden zu lassen. Die orthographischen Angaben haben nur eine Bezeichnungsfunktion, aber sämtliche, durch die Komplexität verursachten Assoziationen spielen sich in den Köpfen ab. Die Sprache als Ausdruck des Bewusstseins geht auf die Reise, während der Aktionsradius der tatsächlichen Personen übersichtlich bleibt. John Dos Passos löste in Manhattan Transfer das Problem anders, indem er mit der Montagetechnik an das Ganze ging. Da steht vieles nebeneinander, anderes überschneidet oder kreuzt sich. Der Mammon New York ist semantisch als Ganzes nicht mehr zu erfassen, das pars pro toto-Prinzip gilt nicht mehr, da rührt nur noch das Einzelschicksal in einem kosmischen Orkan.

Und auch Alfred Döblin, der Romancier, der so schön erzählen konnte, ramponierte die Ordnung in Berlin Alexanderplatz, bis nichts mehr herrschte als Verzweiflung und Verwirrung. Das machte übrigens 150 Jahre vorher Balzac nicht anders mit Paris, in seinen Verlorenen Illusionen zerrieb er die Talente aus der Provinz an den eisernen Kanten der metropolitanen Verwertungsmaschine, während Charles Dickens ein London zeigte, in dem der Reichtum der Welt angehäuft wurde vor einem Hinterhof pauperisierter Kinder. Und selbst Dostojewski schilderte ein durch den Industrialismus explodierendes Sankt Petersburg, in dem die Werte des Raskolnikow an dem Spiel um Macht und Reichtum zerschellten. Und Tom Wolf schlug mit dem Fegefeuer der Eitelkeiten wiederum den Bogen nach New York, in dem sich Parallel- und Subuniversen herausgebildet hatten und eine falsch gewählte Straßenabbiegung genügte, um im wahrsten Sinne des Wortes in Teufels Küche zu gelangen.

Abgesehen von philosophischen Exkursionen, die wohl markanteste mit Walter Benjamins Passagenwerk, in dem er nicht nur Paris, sondern auch dem Flaneur ein epistemologisches Denkmal setzte, sorgen nahezu alle Reflexionen über die Stadt in der Moderne für den universalen Disput: Wie verkraftet der Mensch die über ich hereinbrechende Komplexität, wo findet er seinen Halt, wie regelt er in diesen Wirren das Zusammenleben, wie entsteht ein Regelwerk, das die Diversität akzeptiert und fördert? Denn das ist die Herausforderung, die die moderne Stadt mit sich bringt: Sie fokussiert die Unterschiede. New York als Eldorado der Immigration kokettierte lange mit der Metapher des Schmelztiegels. Erst später merkte es, dass so etwas nur begrenzt funktionieren kann. Es sind nicht die Kulturen, die verschmelzen, sondern die Erfahrung, wie man gemeinsam mit dem Unterschied umgeht. Die New Yorker stammen immer noch aus Irland, Deutschland, Jamaika, Russland, Polen Kuba oder Griechenland, und das legen sie auch nicht ab, die gemeinsame Definition ist aber die einer Überlebenselite, die aus allen Teilen der Welt stammt. If You can make it there, you make it anywhere.

Die große Herausforderung der Metropolen, zu denen auch immer kleinere Städte werden, weil die kulturelle, soziale, ethnische und religiöse Diversität steigt, ist und bleibt die wachsende Komplexität. Die bizarren Landkarten der Städte, die sich dieser Diversität verschreiben, legen eines nahe: Nur, wer diese Komplexität als eine Chance und ein Potenzial begreift, wird in der Metropole von heute bestehen können. Und wenn das so ist, dann kann es nur die Demokratie sein, die zwischen den Unterschieden vermittelt. Fortsetzung folgt.

987 Seiten Weltrevolution

James Joyce. Ulysses

Von der Konzeption mit keinem geringeren Anspruch als dem der klassischen Odyssee, vom Sujet so profan wie es nur geht. James Joyce legte seinen großen, alles Maß in Frage stellenden und die Welt der Literatur revolutionierenden Roman dort an, wo er sich auskannte: Im dreckigen, versoffenen, erzkatholischen und doppelmoralischen Dublin. Ein Tag, der 16. Juni des Jahres 1904, reichte aus, um der Handlung einen zeitlichen Rahmen zu geben. Die Hauptfigur, Leopold Bloom, Anzeigenakquisiteur einer Dubliner Tageszeitung, streunt durch sein Dublin und reproduziert in seinen alltäglichen Gedanken und Motiven den ganzen Kosmos von Geist und Zeichen, Spiritualität und derber Fleischlichkeit. Einzelnen Szenen dieses Romans, wie die blutige Leber im Turm oder der syntaxlose Traum der Molly Bloom, werden weltweit seit seinem Erscheinen im Jahr 1922 kolportiert, das Ganze, die Konzeption Joyce, vermag kaum einer verständlich zu erzählen.

Der bürgerliche Roman mit seiner Erzählung von der Bildung und Emanzipation des Individuums, eingebettet in ein übersichtliches soziales Feld und eine überschaubare Handlung, die Perspektive des Ausschau-Haltens, wurde von dem fast blinden, siebensprachigen Linguisten und Etymologen James Joyce, der in Dublin groß geworden war, ersetzt durch eine gewaltige Dimension der Introspektion, der Beobachtung und des Horchens nach Innen, um dem Leben auf den Grund zu gehen. Von der Struktur und den einzelnen Kapiteln der klassischen Odyssee Homers folgend, breitet Joyce die gedankliche Textur eines Tages aus. Dabei spielen nicht die finalen Botschaften, sondern die assoziative Entstehung von Sinn und Sprache die zentrale Rolle. Es sind Erzähllinien, die in hohem Maße verstören, aber auch Türen aufstoßen, durch die wir heute, im 21. Jahrhundert, fast ein Jahrhundert später, zum ersten Mal zu blicken wagen. Die Entstehung der Sprache im Mutterleib, von Joyce in Ulysses rekonstruiert als eine Evolution vom Altsächsischen zum zeitgenössischen modernen Englisch, wird nicht zu einem individuell biologischen Akt, sondern zu einer historischen Entwicklung der ganzen Spezies. Die Stränge der Erzählung, so brachial sie erscheinen und so fraktal sie angelegt sind, sind eine Reise durch den Korpus der menschlichen Erkenntnis.

Das Revolutionäre von Ulysses ist die Durchbrechung des pars-pro-toto Prinzips, die Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze, und die Entdeckung des mikrokosmischen Erkenntnisprogramms. Joyce entdeckt die Konstitutionsprinzipien der modernen Großstadt mit ihren Brüchen, Brücken und sinnlosen Übergängen als das Modell der Erkenntnis in der Moderne. Mit diesem Werk war der bürgerliche Roman als Konzeption tot. Er legte den Grundstein für zahlreiche Versuche, die großen Metropolen als Erzählung zum Deutungsmuster zu erheben. Dos Passos´ Manhattan Transfer und Döblins Berlin Alexanderplatz wären ohne Ulysses genauso undenkbar wie der analoge philosophische Entwurf von Walter Benjamins Passagenwerk. James Joyce Ulysses ist die Weltrevolution der Erkenntnis. Das sollte bei der Lektüre beruhigen. Zu ihr braucht man mehr als einen Tag, und selbst ein ganzes Leben wäre nicht zuviel.