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Das finale Ende der Westprovinz und Englands Reise nach Ultima Thule

Es bleibt dabei. Der Fußball liefert die Bilder, die eine im freien Fall befindliche Technokratie nicht mehr in der Lage ist, zu schaffen. Montag, der 27. Juni 2016, ein scheinbar ganz normaler Tag bei der Fußballeuropameisterschaft, bot mit zwei dramatischen, ja, historischen Spielen ein ganzes Museum an Bildern für die Nachwelt. Mit den Begegnungen Italien gegen Spanien und England gegen Island trafen jeweils analoge Kulturen aufeinander, die allerdings zeigten, wie unterschiedlich die Stadien wie die Befindlichkeiten sein können, wenn der direkte Vergleich naht.

Spanien, das den Weltfußball nahezu uneingeschränkt für eine Dekade beherrscht hatte, war vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Brasilien in einem denkwürdigen Spiel von den Niederlanden zerlegt worden, hatte sich aber anscheinend in der Zwischenzeit erholt und bis auf die Niederlage gegen Kroatien jetzt in Frankreich seine alten Qualitäten wieder gezeigt. Italien hingegen, das zu Anfang des Turniers manchmal müde belächelt wurde, trat auf wie das alte Rom in seiner Blütezeit und verwies die aufmüpfige Provinz in die Schranken. Das im Schatten des Imperiums entwickelte System des Tiki-Taka  erhielt nicht nur keine Sanktion als allgemeine Verkehrsform, sondern eine regelrechte Untersagung. Italien zeigte, zu was ein Imperium, das seit Unzeiten Höhen und Tiefen erlebt hat, letztendlich doch in der Lage ist, wenn es um Strategie und Taktik geht.

Einem ersten, schmerzhaften Schlag folgte eine Phase der Zermürbung, die immer wieder in die Länge gezogen wurde, in dem den Spaniern kleine Dosen von Hoffnung eingeflößt wurden. Und dann, als die so ersehnte Wende mit trockenen Kehlen am lautesten beschrien wurde, setzten die Strategen vom Tiber zu einer tödlichen Figur an. Pellè, der wuchtige Mittelstürmer, schlug mit funkelnder Klinge durch den porösen Haufen der iberischen Phalanx und setzte damit der luziden Phase der Westprovinz ein finales Ende. Ist die Sonne erst einmal untergegangen, dann ist es auch im Westen dunkel. So borniert das Resümee klingen mag, so verheerend das Resultat für die lichtverwöhnten Bewohner dieser Zonen.

Glich Spaniens Hinrichtung einem tiefen Fall, so war Englands Niederlage ein Desaster mit Ansage. Zu jedem Turnier, an das sich die heute Lebenden noch erinnern können, fahren sie mit lautem Geläut an und verkünden den großen Sieg, auf den sie schon so lange warten. Einmal, 1966, als die Queen auf der Tribüne des heimischen Wembley saß, war ihnen dieser Coup gelungen. Seitdem wiederholt sich das Versagen nach dem gleichen Muster: Große Ankündigung mit der Beinote, diesmal sei alles anders, frühes Ausscheiden und anschließende Sündenbocksuche.

Doch das Ausscheiden Englands, das einer letzten Fahrt nach Ultima Thule, dem dunklen, mystischen Ende der Welt glich, war nicht nur der durchaus zu beobachtenden eigenen Unzulänglichkeit zu verdanken. Trotz aller Kritik, die berechtigt aus dem englischen Profigeschäft abgeleitet und mit den damit einhergehenden geringen Chancen für den Nachwuchs verbunden wird, hat ein Team aus dem Hohen Norden die Herzen Europas bereits erobert. Island, mit durchaus zeitgenössischer Taktik, einer aus den Arsenalen der Wikingerblüte entlehnten Athletik und einem nur im Nordmeer überlebensfähigen Willen zwang die Engländer nahezu mit große Leichtigkeit in die Knie. Da schlichen zahnlose britische Löwen über den Platz, juvenil aber satt, brillant trainiert aber ohne Motiv. Islands Erfolg glich einer materialisierten Zivilisationskritik.

Und die Lehren? Imperien haben Bestand, wenn sie sich nicht durch die Arroganz der Parvenüs blenden lassen und Reiche fallen, wenn der Mammon drückt und die jungen Gegner hungrige Mägen haben. Kein schlechter Erkenntnisstand für zweimal 90 Minuten.

Ein Tor für die Hall of Fame und Kollektivkunst aus Italien

Der Verlauf der EM hat eigentlich keine Überraschungen zutage gefördert. Kühl betrachtet, haben die großen Stämme ihr erstes Ritual absolviert. Frankreich, England, Spanien und Deutschland haben das mit der Ausnahme Englands ganz routiniert abgewickelt. England ist traditionell die Ausnahme, in der eigenen Sprache könnte man es das Big-Mouth-Phänomen nennen, sie fahren mit großen Vorschusslorbeeren zu einem Turnier und sind sehr schnell auf dem Boden der Tatsachen zurück. Gegen Russland spielte England im Gegensatz zu früheren Weisen erfrischend, aber es reichte dennoch nicht gegen ein monolithisch dastehendes Russland.

Bei Frankreich wird sich zeigen, welches Tempo es noch aufnehmen kann, wahrscheinlich mehr als Spanien, das sich sehr schwer tat. Dennoch ist die spanische Substanz nicht zu unterschätzen, aber die These ist, dass dort vieles vom Zufall abhängen wird. Die deutsche Mannschaft zeigte Höhen und Tiefen, aber mit den beiden Toren genau die Qualität: die Jungen rücken bereits nach und die Alten sind noch lange nicht abgemeldet. Weder Angriff noch Abwehr überzeugten, aber beide Reihen zeigten Qualität in Stresssituationen. Das Mittelfeld, in dem neben den Spielern, die überzeugen konnten immer noch das Özil-Potenzial schlummert, das außer bei dem grandiosen Zuspiel beim 2:0 nicht aufleuchtete, weist auch noch Perspektiven nach vorne.

Das 2:0 durch Sebastian Schweinsteiger war das erste richtige Highlight des Turniers, weil es den Stoff barg, aus dem Legenden geformt werden. Der verletzte, der lädierte Held von Rio, der in der post-heroischen Ära noch einmal gezeigt hatte, dass es mit Brillanz und Hedonismus alleine eben nicht geht, dieser Held, auf den die zu Unrecht gehandelten Experten keinen Pfifferling mehr gaben, der kam drei Minuten vor Schluss auf den Platz und war 120 Sekunden später der Held des Abends. Zu Recht. Schon jetzt steht dieses Tor bereits in der Hall of Fame. Da fällt, ganz im Sinne des zitierten Heroismus, eben doch das alte Lied ein, Old soldiers never die, they just fade away…

Den mannschaftlich grandiosen Akzent jedoch setzte Italien. Die große, die ganz große Fußballnation hat mit ihrem Auftritt gegen die hoch gehandelten und von den Marktschreiern wieder einmal als Geheimfavorit titulierten Belgier eine alte Regel bemüht und eiskalt verifiziert: Wenn Italien vor einem Turnier schlecht gehandelt wird und es bei niemandem auf dem Zettel steht, dann sind sie plötzlich da und spielen sich in den Himmel. Das hochkarätige belgische Individualistenensemble wurde relativ hilfloses Opfer gegen taktische Finesse, technische Präzision, strategische Genialität und einen guten, überzeugenden Mannschaftsgeist. Das war nicht mehr die große Oper, die noch mit einem Pirlo versucht wurde zu inszenieren, sondern Kollektivkunst, die aber dennoch in der Lage war, ästhetische Qualität hervorzubringen, denn beide Tore waren eine Augenweide. Italien spielte zwar kein neues, sondern ein sehr altes System, aber es wählte diese Variante, um genau den Gegner, der auf dem Platz stand, die Zähne zu ziehen. Einfach, genial und erfolgreich.

Die EM bleibt ein Abbild des Kontinents. Wenig Innovation, große Bemühungen, Besitzstände zu verteidigen, aber auch große Traditionen und wunderbares Handwerk. Es gilt, mit diesem Mix wohl über eine bestimmte Zeit hinweg leben zu müssen. Zumindest bis zum Ende dieses Turniers.

Europa schaut nicht in den Spiegel!

Die Geschehnisse lassen sich nicht bremsen, ein politisch gewichtiges Ereignis wird bereits durch das nächste abgelöst. Zeit für eine Rast existiert nicht und die notwendige Reflexion über Ereignisse bleibt wegen des Tempos aus. So ist in vielem der Lauf der Dinge, es sei denn, man hätte einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit der Reflexion. So ist es aber nicht. Und so ist es normal, dass die Chance, aus den Prozessen, die uns beherrschen auch noch zu lernen, vergeben wird. Und so geht das Leben weiter, von Verhängnis zu Verhängnis, von Blackout zu Blackout, von Fehleinschätzung zu Fehleinschätzung. Herrschen Defizite im Innern, so ist der Blick auf das Außen gerichtet, das von einem schärferen Blick wahrgenommen wird als das Innere.

So wird deutlich, warum die Verhältnisse von Afghanistan bis in den Sudan, vom Jemen bis nach Syrien und von Mali bis Nigeria, von der Ukraine bis zum Kosovo immer wieder die Gemüter der Gazetten erregen, aber die Mordanschläge im eigenen Land irgendwie bagatellisiert werden und der Zustand im Bündniseuropa so langsam registriert werden. Dabei wäre es, zur eigenen Positionierung, von großem Nutzen, den Zustand Europas zu analysieren, bevor dasselbe auf hohem Thron zu Gericht über die Restwelt sitzt.

Im Norden, in Skandinavien, wo die Welt in normalen Zeiten in Ordnung zu sein scheint, ist die wirtschaftliche wie politische Lage im Großen und Ganzen stabil, aber wegen konkreter Anschläge auf ihre demokratischen Traditionen mental destabilisiert, existieren Anzeichen einer Abschottungspolitik. In den Niederlanden, einst Blaupause für eine multi-kulturelle Gesellschaftsorganisation, haben sich die Fronten verhärtet und ist die Sanftheit aus dem Alltag gewichen. In Belgien, dem Land ohne Regierung, wird deutlich, wie lange dort bereits eine nicht staatliche, im Schattendasein existierende Parallelgesellschaft auf den Countdown mit der formalen Demokratie wartet. In Frankreich kämpft eine alte Kolonialmacht mit der Moderne einen Kampf, der durch großen Strukturkonservatismus ebenso geprägt ist wie durch die Nach-Generationen des Ancien Regime. In Spanien, Portugal und in Griechenland versuchen die Finanzmagnaten des modernisierten Nordens die Gemeinwesen zu auktionieren und es formen sich Gegenbewegungen, die politisch noch eine große Rolle spielen werden.

Italien ist vielleicht der Staat, der, wäre er nicht traditionell mit einem Krisenmanagement behaftet, die Rolle des Moderators spielen könnte, nämlich durch den eigenen Pragmatismus und die fehlenden Mittel, um von der Schwäche der anderen profitieren zu können. Mehr als 2000 Jahre der Erfahrung von heikler politischer Gestaltung liegen dort quasi auf der Straße. Rational wäre dieses Management nicht, aber es ließe sich mit ihm leben, außer im Zentrum, wo die Dogmatiker derweilen ihr Unwesen treiben.

Im Osten hingegen, vom Süden bis in den hohen Norden, musste als Eintrittspreis der Offenbarungseid geleistet und danach die harte Schule der liberalen Wirtschaftstheorie durchlaufen werden. Sie haben ihren Preis bezahlt, sie haben vieles verloren von dem Wenigen, das lebenswert war vermutlich sogar alles. Nun, nach der Radikalkur für ihr Gemeinwesen und dem Verlust letzter Sicherheiten, sollen sie sich Experimenten aussetzen, die im fetten, butterhaltigen Norden bereits für Aufsehen sorgen. Dass sich dort der Widerstand regt und dass dieser recht spröde und provinziell vor der Tür erscheint, ist alles andere als überraschend.

Angesichts der sehr spärlich beschriebenen Zustände in den einzelnen europäischen Staaten wäre es in hohem Maße verdienstvoll, sich dieser Probleme anzunehmen, bevor der Blick in der großen Welt herumschweift und Lösungsmodelle entworfen werden, die allenfalls aus dem Offizierscasino stammen könnten.