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4. August 1914

Der als I. Weltkrieg in die Annalen eingegangene Horror hat anlässlich seiner einhundertsten Jährung große Aufmerksamkeit erfahren. Unzählige Bücher und Dokumentationen haben das Datum ergriffen, um aus heutiger Sicht dieses vier Jahre dauernde und Europa wie den Rest der Welt traumatisierende Ereignis aus vielen Perspektiven zu beleuchten. Abgesehen von einer immer noch blühenden Historiographie, die auch hier den Schwerpunkt auf die psychische Disposition einzelner Mächtiger setzt, sind einige Arbeiten dazu sehr fokussiert auf den Konnex von Moderne und Vernichtung. Dieser Aspekt ist weder zu leugnen noch zu vernachlässigen. Kein Ereignis vor dem I. Weltkrieg hat deutlicher gezeigt, wie sehr die Aufklärung und die mit ihr einher gehende fulminante Entwicklung der Wissenschaften dazu beigetragen hatte, das im Industrialismus gereifte Wissen zugunsten der Zerstörung einzusetzen. Mit allen Konsequenzen, mit aller Effizienz und mit aller Rücksichtslosigkeit. Lange vor dem Faschismus und dem Holocaust hat sich die Dialektik der Aufklärung in ihrem schauderhaften Gesicht gezeigt.

Der Beginn des I. Weltkrieges, der auf das Attentat in Sarajevo datiert wird, sollte aber ein anderes Datum in seiner Bedeutung nicht überschatten. Es handelt sich um den 4. August 1914. An diesem denkwürdigen und schicksalsträchtigen Tag stand im Reichstag zu Berlin die Bewilligung der Kriegskredite zur Abstimmung. Es wäre ein Datum wie viele andere in der traurigen Abfolge einer schaurigen Logik der Kriegsvorbereitung und Mobilisierung, hätte nicht die deutsche Sozialdemokratie im Reichstag diesen Kriegskrediten zugestimmt. Das war nicht nur ein Wendepunkt, sondern eine Tragödie, die sogar den I. Weltkrieg bis heute überschattet.

Die deutsche Sozialdemokratie repräsentierte bis zum 1. August 1914 die größte und am besten organisierte Arbeiterklasse der Welt. Nicht nur die Theoretiker der Kommunismus wie Karl Marx und Friedrich Engels hatten ihr die Rolle einer historischen Alternative zu Kapitalismus, Imperialismus und Krieg zugesprochen. Auch der zu dieser Zeit im Schweizer Exil lebende Lenin hatte alle Hoffnungen auf die deutsche Sozialdemokratie und die von ihr repräsentierte Arbeiterklasse gesetzt. Am 14. August 1914 ging die Hoffnung auf eine andere Welt unter, noch bevor die Kriegsmaschinerie so richtig in Gang kam.

Die Konsequenzen, die aus dem Abstimmungsverhalten resultierten, waren fatal. Sie führten zu einer Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung, sie führten zu einer Verbürgerlichung auf der einen und zu Sektierertum auf der anderen Seite. Alle Interpretationen und Urteile, die folgten, hatten nicht die Überzeugungskraft für einen Neuanfang. Wer hat uns verraten, hieß es und heißt es bis heute, aber weder Schuld noch Verrat sind Zuweisungen, die den Lauf der Geschichte erklären. Mit derartigen Charakterisierungen können einzelne Menschen, aber nicht das alles zermalmende Räderwerk der Geschichte beschrieben werden. Und es gab nicht nur die SPD im Reichstag, sondern auch die in den Kasernen und Betrieben. Diejenigen, die sich gegen das Diktum der Partei aus Berlin erhoben, landeten blitzschnell an der heißen Front und waren bereits nach den ersten Kriegswochen tot. Sie waren das Faustpfand auf die Vision einer Zukunft, die es dann nicht mehr gab.

Seit der Entstehung des Kapitalismus in England hatten diejenigen, die in einem durch den Einsatz von Energie und Wissenschaft betriebenen Industrialismus als soziale Klasse hervorgegangen waren in über zwei Jahrhunderten darauf hingearbeitet, im Falle eines Raubkrieges dem Kapitalismus sein Testament zu verlesen. Am 14. August 1914 saßen weltweit alle Erben am Tisch. Ihre Zukunft wurde verbrannt, die Vision der Moderne wurde beerdigt und nicht das böse Gespenst, das alle loswerden wollten. Wer würde nicht trauern wollen, an einem solchen Tag!

Zweck und Wert

Kennst du deine Feinde, kennst du dich selbst, hundert Schlachten ohne Schlappe. Das Diktum der großen Strategen aus dem Reich der Mitte ist nicht nur ein Indiz dafür, dass wir es mit einem semantischen Archetypus zu tun haben, sondern es dokumentiert wieder einmal den Charme asiatischer Dialektik. Das Abschätzen von Kräften zweier miteinander streitender Parteien entscheidet darüber, welches Ziel formuliert und zu welchen Mitteln gegriffen wird. Wie weise. Und, andererseits, wie banal. Die neuzeitlichen Philosophen asiatischer Guerilla- und Befreiungskriege wie Mao Ze Dong und Ho Chi Minh griffen auf diese Weisheit zurück und waren damit erfolgreich. Auch gegen konventionelle Übermächte. Diese waren zumeist getrieben von der neuen Apotheose der technischen Machbarkeit. Sie hatten Strategien, die soziale und politische Dimensionen zur Grundlage legten, ersetzt durch den Glauben an die Technokratie. Das war fatal. Das blieb fatal, bis heute. Vielleicht handelt es sich dabei um die Tragödie des Westens schlechthin. Hatte er es doch vermocht, mit der Verwissenschaftlichung und Industrialisierung seiner Prozesse die alten Mächte dieser Erde an die Peripherie zu drängen und ungeheure Reichtümer zu schaffen, die alles erdrückten.

Im Rausch des Erfolgs blieben die sozialen und politischen Skills anscheinend auf der Strecke. Durch Technologie kann man herrschen, durch Reichtum auch. Zumindest innerhalb bestimmter Zeiträume. Doch die Perfektionierung eines Mittels wie der Dominanz eines sozialen Zustands sind keine Strategie. Beides hinterlässt ein Vakuum, das ausgefüllt werden will. Selbst oder gerade wenn man zurückgeht in die Welt der Mythen wird evident, dass menschliche Existenz nach Erklärungen für das Sein sucht, nach Mustern für den Sinn und nach Identitäten für das Zusammenleben. Das alles kann weder Konsum noch Wohlstand leisten. Und das scheint zunehmend das Defizit des so grandios daher kommenden Westens zu sein. Das große Paradigma der Demokratie, die ihrerseits sicherlich die formale Grundlage für das Florieren von Technologie und Reichtum war, ist ausgehöhlt durch eben ihre eigene Dialektik. Der Schein des Gelingens hat die Ursache desselben längst übertrumpft. Der Sinn der Demokratie ist nicht seine Degradierung zum Zweck. Technologie und Reichtum scheinen hingegen zum Sinn geworden zu seinen und die Demokratie ihr Zweck. Das kann nich gut gehen und das wird nicht gut gehen.

Das Gespenst der Systemtheorie, Niklas Luhmann, hatte trotz aller politischen Virulenzen, in denen er wirkte, zwei Termini geschaffen, die er aus dem Amalgam der Entwicklung gedeutet hatte. Er sprach von Wert- und von Zweckrationalität. Damit lag er phänomenologisch richtig. Die Vorgehensweise in den Herzländern der Technologisierung und Industrialisierung ist zu einem Absolutismus der Zweckrationalität verkommen und dominiert das Denken wie nie. Die Wertrationalität, die determiniert, warum wir was wie machen, zurückgeführt auf Grundwerte, nach denen wir operieren, ist zu einer Randexistenz geworden, die allenfalls in therapeutischen Kontexten noch eine Relevanz besitzt.

Kommen wir zurück zu dem Diktum der Strategen aus dem Reich der Mitte und Tongking. Die Verblendung, die aus dem Zweckrationalismus entstiegen ist, macht es zunehmend schwer, in Kontexten zu agieren, in denen wesentliche Bestandteile von Wertrationalität Geltung behalten haben. Ob die geteilt werden oder nicht, ist dabei irrelevant. Man muss sie nur verstehen. Bewegt man sich jedoch nicht von dem Erklärungsmuster der Zweckrationalität weg, wird man sie nicht begreifen. Es gilt zu verstehen, dass die Welt der Zweckrationalität nicht überall auf der Welt die Attraktivität besitzt wie in unseren Breitengraden. Anscheinend wird diese Einsicht verweigert. Das verheißt nichts Gutes. Viele Schlachten. Viele Schlappen.

Ein Konvolut aus Befindlichkeiten

Wie weit ist die Gesellschaft bereit zu gehen bei einer Utopie, die keine ist? Alles, wofür die Geschichte dieses Landes in den letzten 250 Jahren steht, ist die der Erfindung, Innovation, Industrialisierung und Implementierung neuer Verfahren. Die technische Intelligenz ist das Asset dieses Landes. Nicht die politische Finesse, da sind wir wohl eher Rabauken. Nicht umsonst frotzelte Europa immer vom Land der Dichter und Denker. Das war kein Kompliment, sondern die Arroganz gegenüber einem Flickenteppich von Kleinfürstentümern und Miniaturkönigreichen, die es nicht zuwege brachten, eine Nation zu bilden. Dennoch, technische Entwicklungen fanden hier wiederholt ihren Ursprung, die Industrialisierung führte zu einer Wohlstandsentwicklung, die für ein rohstoffarmes Land eher untypisch ist.

Immer wieder gab es Strömungen gegen den technischen Fortschritt und die damit verknüpfte Werteproduktion. Das begann mit der Romantik, die sich den Anfängen der Moderne entgegenstellte und die – aus heutiger Sicht – die wohl intelligentesten Fragen stellte angesichts der robusten Unterjochungsmechanismen des aufziehenden Kapitalismus. Die unter dem Siegel des Fin de Siècle firmierende Kritik stand dem Industrialismus von Angesicht zu Angesicht gegenüber und ahnte bereits die desaströsen Aufteilungskriege, die kommen sollten. Avantgarde und Dada folgten und stellten nicht zu Unrecht die Sinnfrage, die sich stellte nach der Beziehung zwischen Produktivität und gleichzeitigem Destruktionspotenzial.

Bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts reüssierte eine neuerliche Kapitalismus- und Technikkritik, die unter dem Slogan Zurück, oh Mensch, zur Mutter Erde zusammengefasst werden konnte. Flankiert von den ersten anthroposophischen und ökologischen Traktaten entspann sich ein Kult um tradierte Naturverfahren und einer der Natur analogen Lebensrhythmik. Nicht, dass diese Bewegung per se eine politische Radikalisierung in sich barg, aber gute Teile derselben fanden sich in der Blut- und Bodenideologie des Faschismus wieder, während andere in verdauungsphilosophische und seifenferne Kommunen nach Ascona entflohen.

Wieder konnte dieses Land große Fortschritte im Industrialismus vorweisen und wieder mündete der vermeintliche Wohlstand in einem sozialen Desaster, das den Krieg nach sich zog. So wundert es nicht, dass nach der Etablierung der Nachkriegsordnung, die wiederum auf Technik, Innovation, Industrialismus, Warenproduktion und Export setzte, eine romantisierte Gegenbewegung auf dem politischen Schirm auftauchte. Mit der Ökologiebewegung etablierte sich der historisch bereits verschiedene Male aufgetretene kulturelle Gegenreflex zur industriellen Verwertungsgesellschaft erstmals politisch. Zu verdanken hat die Bewegung dieses ihrem multiplen Ursprung: Naturverbundenheit, Anti-Modernismus, traumatisierte Teile der maoistischen Bewegung, Friedensbewegung, unterschiedliche sexuelle Orientierung und Gender-Emanzipationsprogramme kamen in der ersten Stunde zusammen und sicherten für lange Zeit die Existenz der Bewegung über aktuelle Anlässe hinaus.

Die konstante Präsenz dieser Bewegung als politische Partei in einem etablierten Spektrum ist aus dieser Diversität der Ansätze zu erklären. In allen thematischen Bereichen, in denen ein zum Teil nicht unberechtigtes Unbehagen immer wieder zum Durchbruch kommt, ist allerdings kein Gesellschaftsentwurf zu erkennen, der ein neues Paradigma gegenüber der immer noch dominierenden Existenz der Industriegesellschaft deutlich machen würde. So ist ein öffentlicher Diskurs entstanden, der sich immer wieder um Teilaspekte des Daseins dreht, dem großen Wurf, der nötig wäre, um eine andere Zukunft als der programmierten zu gestalten, bleibt jedoch aus. Insofern handelt es sich um eine Bewegung, die historisch alle Attribute zum Scheitern erneut mit sich trägt. Daher ist es abenteuerlich, von einer Alternative zu sprechen. Die existiert nicht, die Programmatik bleibt diffus wie eh und je. Ein Konvolut aus Befindlichkeiten ist nicht die Grundlage eines neuen Entwurfs.