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Ibu Soemilah

Nach dem Sturz Soehartos war in Indonesien einiges in Bewegung geraten. Nicht zum ersten Mal in seiner jungen Geschichte musste dieses Land mit seinen 20.000 Inseln und ungefähr 200 Kulturen und Sprachen, die kaum etwas miteinander gemein hatten als eine dreihundertjährige Kolonialgeschichte, wieder ganz von vorne anfangen. Das Regime des alten Herrschers, der in den Sechziger Jahren so brutal an die Macht gekommen war und nahezu die komplette Gründungsgeneration des freien, unabhängigen Indonesiens kaltgestellt hatte, war unter einem mächtigen Slogan in die Knie gegangen. Eine breite, sich durch das ganze Volk bis hin in die Funktionseliten ziehende Opposition hatte sich unter der Parole KKN versammelt. Sie klagte Korruption, Kollusion und Nepotismus an und charakterisierte das Regime damit präzise. Als Soeharto 1998 zu einer Reise nach Kairo aufbrach, brannten in Jakarta die Straßen. An einem Tag kamen im Norden der Stadt 10.000 Menschen um. Im Chinesenviertel Glodok und am Hafen Tanjung Priok versuchte das alte Regime, den Widerstand zu brechen. Es gelang nicht. Als Soeharto aus Kairo zurückkam, war er ein geschlagener Mann.

In der Folgezeit versuchte das Volk genauso auf die Füße zu kommen wie ein wie immer auch geartetes politisches System. Kaum war der Rauch verflogen, gaben sich die Weltbank und Emissäre des IWF die Klinke in die Hand, um dem Land Geld zu versprechen und Reformen, die nach dem Muster Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung folgten, von der neuen Regierung zu fordern. Zumeist flogen sie mit ihren vollen Koffern zurück, was für das neue Indonesien sprach.

Aber das Land lag in vielerlei Hinsicht am Boden und der Weg in eine neue, freiere Zukunft musste erst noch gefunden werden. In vielen staatlichen Institutionen, die vom alten Korpsgeist geprägt waren, begannen mal laute, mal leise Umgestaltungsprozesse, die sehr beschwerlich waren. Zum einen trafen Generationen aufeinander, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, zum anderen fehlte es finanziell an allem. Hier die Alten, die über drei Jahrzehnte durch die gebotene Vorsicht, die eine Diktatur mit sich bringt, geprägt waren, dort die Jungen, die global im Internet kommunizierten und ihre Demonstrationen über Cellular Phones organisiert hatten. Richtig schwierig wurde der Umgestaltungsprozess, wenn Alte die Führung der Organisation innehatten und Junge nach Führung wie Veränderung strebten.

Das SEAMEO Tropmed war, auf den ersten Blick zumindest, eine solche Organisation. Es handelte sich um ein tropenmedizinisches Institut der Universität Indonesia in Jakarta, das aber mit Schwesterinstituten in Bangkok und Manila vernetzt war. Eines Tages erreichte uns, d.h. einer  staatlichen Beratungseinheit, die eigens für die Begleitung derartiger  Umgestaltungsprozesse eingerichtet war, ein Anruf der dortigen Leiterin, Professor Ibu Soemilah, die darum bat, zu einem Konsultationsgespräch zu erscheinen. Wir sagten zu und machten uns auf den Weg.

Wir landeten in einem Hinterhof von vom Tropenklima und mangelnder Bauunterhaltung zerstörter Institutsgebäude, hinter Müllcontainern, die bestialisch stanken. Als wir das Büro der Direktorin betraten, strahlte uns eine würdige, alte Dame an, die uns in einer mit ramponiertem Mobiliar bestückten Hütte empfing, als handelte es sich um einen Palast. Wenn es eine Aura gibt, die ein Mensch auszustrahlen in der Lage ist, dann besaß sie diese Frau. Liebenswürdigkeit, Würde, Maß, Sicherheit, Gewissheit und Respekt waren die Dimensionen, die sich sofort, schon beim Öffnen der Tür, einstellten. So etwas passiert sehr selten im Leben, Ibu Soemilah vermochte dies geschehen machen.

Sehr schnell setzte sie uns ins Bild. Das Institut lag am Boden, Geld gab es nicht, dafür aber alle Freiheiten, um etwas daraus zu machen. Das Personal war vornehmlich ehrgeizig und jung und sie, die Siebzigjährige, wolle diese Jungen mit ihrer ganzen Erfahrung bei diesem Prozess unterstützen. Ibu Soemilah, die sprach und weltlich gekleidet war, wurde umrahmt von zwei jungen Frauen, die den Jilbab trugen. Es spielte keine Rolle.

Schließlich einigten wir uns auf eine längere Kooperation, die vor allem daraus bestand, dass wir dabei halfen, die vorhandenen Kompetenzen zu identifizieren, die bestehenden Leistungen zu bewerten, die qualitativen Möglichkeiten neuer Dienste zu benennen und die Notwendigkeiten, dafür Interessenten zu finden, auszuloten. Immer wieder trafen wir uns zu Workshops, in denen deutlich wurde, wie groß die Kluft war, die zwischen dem jungen Staff und der alten Direktorin herrschte. Ihr Schicksal war es wohl, dass sie mit etwas identifiziert wurde, wofür sie gar nicht stand. Wie ich von meiner indonesischen Kollegin erfuhr, gehörte Ibu Soemilah zur Gründergeneration Indonesiens. Sie selbst hatte als junge Frau auf der Insel Java mit der Waffe in der Hand gegen das niederländische Militär gekämpft und war dann zu Präsident Soekarno nach Jakarta gegangen. Ihre Generation war, es, die von dem soeben verjagten Diktator um ihre Zukunft gebracht worden war. Und jetzt, wo es um einen neuen Aufbruch ging, hatte sie mit einem Stigma zu kämpfen, für das sie nichts konnte.

In den Gesprächen, die wir mit ihr führten, spielte dieses Thema nie eine Rolle. Sie analysierte die Situation mit scharfem Verstand, gab ihr Plazet zu allem, was notwendig war und stemmte sich gegen Dinge, die nur dem Zeitgeist, nicht aber etwas wirklich Neuem entsprachen. Das handelte ihr oft auch roh formulierte Kritik ein, doch sie lächelte nachsichtig und weise. Als wir sie einmal fragten, wie es ihr mit der zeitweiligen Aggressivität ginge, antwortete sie lediglich, mit einem etwas verträumten Blick, sie sind doch jung! Und das sagte sie, als sei sie verliebt.

Bei einem mehrtägigen Workshop, der in einem Handlungsprogramm enden sollte, führen wir in den Puncak, eine Bergkette im Norden Jakartas, die hoch liegt und wo es kühler ist. Es war Regenzeit und während dieser Tage brachen noch einmal alle Widersprüche auf. Es wurde heiß diskutiert und es schien, wie der Regen, kein Ende nehmen zu wollen. Die permanenten Wolkenbrüche schlugen allen aufs Gemüt, alles war nass, die Telefone funktionierten nicht mehr, Lampen brannten durch und die Küche wurde auch immer schlechter. Als wir uns am vorletzten Abend voneinander verabschiedeten, strahlte uns Ibu Soemilah an, und entließ uns mit den Worten: enjoy the rain!

SEAMEO Tropmed wurde ein Erfolgsmodell. Heute, so erzählte mir meine Kollegin von damals, regiert dort ein junges Management und man tagt im Hilton. Ibu Soemilah ging kurz nach dem verabschiedeten Programm in den Ruhestand. Als ich ihr Adieu sagte, weil ich nach Deutschland zurück ging, wünschte ich ihr ein langes Leben und die Gnade, sich ihre große Weisheit bewahren zu können. Und wieder lächelte sie milde. Wir tranken einen letzten Tee zusammen und sprachen von der Unwahrscheinlichkeit, dass sich unsere Wege in diesem Leben noch einmal kreuzten. But, so schloss sie unser Gespräch mit der ihr eigenen Würde, You never know where the ball rolls…

Praktische Konkordanz im Norden Sumatras

In Zeiten der Polarisierung und Barbarisierung beim Umgang mit Konflikten sorgt das Bewusstsein zuweilen für ein wenig Linderung, weil es Bilder aus dem Inneren hervorholt, die abgelagert waren, aber dennoch dadurch nicht weniger Bedeutung hätten. Ein solches Bild taucht in der letzten Zeit immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Es stammt aus der Zeit, als ich als Berater beim indonesischen Staat gearbeitet habe.

Es war kurz nach dem Sturz des Präsidenten Soeharto, der 32 Jahre zuvor durch einen Putsch zur Macht gekommen war. Die alte Ordnung, die sich offiziell immer die neue genannt hatte, war eingestürzt und in das Machtvakuum drangen viele Gruppen. Es war auch zu beobachten, dass vor allem von Saudi Arabien eine Militarisierung des Islam versucht wurde. Viel Geld floss ins Land, und da, wo auch Armut herrscht, besitzt es immer eine große Attraktion. Indonesien selbst ist das bevölkerungsreichste muslimische Land auf dieser Welt, aber es existieren Regionen, in denen andere Religionen dominieren. Auf der kleinen Insel Bali ist es der Hinduismus und im Norden Sumatras halten sich Muslime und Christen die Waage. Da war es kein Zufall, dass genau an diesen Orten immer wieder Versuche unternommen wurden, die Lunte an das Fass zu legen.

Indonesiens Verfassung basiert auf dem Grundsatz Einheit in Vielfalt, was der ungeheuren Diversität des Landes Rechnung trägt. 20.000 Inseln, davon 13.000 bewohnt, ca. 200 Ethnien und Sprachen, alle Weltreligionen und zahlreiche Animismen machen den Charakter des Landes aus. Mein damaliger Arbeitgeber, eine Regierungsinstitution in Jakarta, die nach dem Vorbild der französischen ENA (ecole nationale d´administration) gebildet war, unterstand in Stabsfunktion direkt dem Präsidenten und hatte den Anspruch, die Maximen der Verfassung in der Wirklichkeit vorzuleben. Kein Wunder also, dass sich dort Muslime, Christen und Hindus versammelten, Batak, Javaner, Balinesen, Molukker, Makasser, Chinesen, Menschen aus Papua und waschechte Dayak aus Kalimantan .Es ging bunt zu und das Bild von interkultureller Kompetenz, das sich mir dort vermittelte, überstrahlt alles, was ich seither erlebt habe.

 Eines Morgens, als ich zur Arbeit erschien, merkte ich sogleich, dass irgendetwas geschehen sein musste. Die Flure waren leer und die wenigen Gestalten, die ich traf, waren in großer Hektik. Als ich gerade in die Flucht zu meinem Büro bog, begegnete mir der Personalchef, seinerseits Batak und Christ aus Medan, einer Millionenstadt im Norden Sumatras, der mich gleich am Arm packte und mir bedeutete, ihm zu folgen. Das wird dich interessieren, sagte er mir, wir haben eine Krise. Als wir den Konferenzraum betraten, waren alle leitenden Mitarbeiter versammelt und ein Direktor, der seinerseits Muslim war und auch aus Medan stammte, schilderte die Lage.

 In Medan war zum wiederholten Male eine Kirche in Brand gesteckt worden, in der Stadt brodelte es gewaltig und das Misstrauen zwischen Christen und Muslimen steigerte sich stündlich. Der Referent verwies auf die Bedeutung der Vorgänge auf die Nation insgesamt und die kritische Situation, die daraus erwachsen könne. Schnell entwickelte sich eine Diskussion, die verschiedene Optionen in Betracht zog. Man konnte ordnungspolitisch vorgehen und als Zentralgewalt von Jakarta aus militärisch eingreifen und Truppen dorthin schicken, man könnte appellieren an die Gläubigen auf christlicher wie muslimischer Seite, man konnte an die Verfassung appellieren. Wie immer in diesem wunderbaren Land wurden die wesentlichen Botschaften non-verbal ausgetauscht und zum Schluss ging man mit der Devise auseinander, jeder müsse das tun, wozu er von der Nation, dem Glauben und seinem eigenen Gewissen autorisiert sei.

Das hörte sich für mich sehr abstrakt an und ich glaubte bereits an eine Formel der Hilflosigkeit, bevor ich dann davon in Kenntnis gesetzt wurde, was es letztendlich praktisch bedeutete: In der Folgezeit bewachten in Medan Muslime die christlichen Kirchen und Christen die Moscheen. Die Situation deeskalierte, diejenigen, die Zwietracht befördern wollten, verloren schnell an Boden. Es ist eine jener Geschichten, die wahr ist und durch ihre Einfachheit besticht. Einfach in ihrer Menschlichkeit und einfach in der Wirkung. Und jenseits der Kleinmütigkeit vieler großer Ideologen.

Krieg und Frieden

In einem monumentalen Werk beschrieb er ein monumentales Ereignis. Leo Tolstoi hat mit Krieg und Frieden eine Erzählung geschaffen, die einzigartig ist. Sie ist einzigartig, weil sie ein historisches Ereignis beschreibt, die Invasion der napoleonischen Armee nach Russland, und weil Tolstoi es vermocht hat, wahrscheinlich unter Tränen, diesen großen, und für alle Seiten so verheerenden Krieg zu beschreiben, ohne Partei im klassischen Sinne zu ergreifen. Er schrieb als Russe nicht für Russland und als Kritiker des Zarismus nicht für Napoleon. In Krieg und Frieden ergriff Tolstoi nur Partei für die Menschlichkeit, die in diesem wie in anderen Kriegen auf allen Seiten bedroht ist und vor die Hunde geht. Auch die Sieger zahlen ihren Preis und auch ihre Konten sind nach dem Krieg voll mit Leid und Groll. Auch die Guten waren böse und auch die Bösen haben gute Taten vollbracht. Das menschliche Leid, so muss das eine große Vermächtnis aus Tolstois Werk paraphrasiert werden, ist die einzige Konstante in einem Krieg.

Es ist töricht, allein aus dieser Erkenntnis heraus der Welt als Verzweifelter zu entschleichen. Immer wieder gibt und gab es Situationen, die nur durch einen Krieg im Hinblick auf eine sinnvolle Zukunft aufgelöst werden konnten. In der jüngeren Geschichte waren das zum Beispiel der Krieg gegen das faschistische Deutschland, der Krieg der Vietnamesen gegen Frankreich und dann die USA, der Krieg der Indonesier gegen die Niederlande oder auch der Krieg der Iren gegen Großbritannien. Eine zentrale Komponente bei diesen Kriegen war, auch im Kampf gegen Hitler, das Recht auf Selbstbestimmung. In keinem der genannten Kriege ging es um diese oder jene Staatsform, um keine Situation der Menschenrechte und um keinen Zustand des Rechtswesens.

Im Unterschied dazu sind die Kriege, die in der Historie als ungerecht einzustufen sind, immer ein Kampf um Ressourcen, Märkte oder geostrategische Vorteile gewesen. Die verehrte Leserschaft möge das durchdeklinieren, die Übung wird sie überzeugen. Insofern ist der Konflikt um die Vorkommnisse in der Ukraine, einmal abgesehen von der ungeheuren Brisanz, mit der sie auf Europa wirken, eine schöne Übung. Die Position des Westens ist insofern interessant, als dass sie versucht, den Aspekt der Selbstbestimmung in den Vordergrund zu stellen, aber den der Ressourcen (Russlands Öl und Gas), den der Märkte (Ukraine, vielleicht auch Russland) und den der Geostrategie (den Gürtel um Russland enger schnallen) nicht deutlich kommuniziert.

Selbstverständlich ist Russland keine Demokratie im bundesrepublikanischen Sinne, selbstverständlich werden in Russland Menschenrechte verletzt und selbstverständlich verfolgt Russland derweilen eine imperiale Politik. Aber mit diesen Merkmalen steht Russland auf der Welt nicht allein. Da könnte man auch gegen China, Indien oder, das wäre für einige ein Fest, auch den USA den Krieg erklären. Aber im Moment geht es um die Ukraine. Wenn es ein Diktum aus dem Westen geben muss, dann ist es das der Selbstbestimmung. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein hohes Gut und in diesem, und nur in diesem Fall, ist es angebracht, dem Tribunen Putin die Schranken zu weisen. Aber bellizistische Pläne mit seiner Regierungsführung zu begründen, das ist geistiges Tollhaus. Da böten sich bessere Felder. Zum Beispiel Ungarn. Was dort in Sachen Menschenrechten exerziert wird, sollte uns alle beschämen. Oder Bayern! Was dort in der Justiz passiert, passt in das Format orientalischer Despotien. Warum schicken wir keine NATO-Truppen nach Bayern? Das wäre bei den Begründungsansätzen, mit denen momentan mögliche militärische Interventionen unterlegt werden, sogar konsequent.