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Dekadenz auf dem Vormarsch

Irgendwann, so steht es in allen Geschichtsbüchern, irgendwann stehen selbst die prosperierendsten und stärksten Reiche an einem Punkt, an dem sich alles zu wenden scheint. Es ist der Übergang von der Blüte zum Verfall. Und wenn dieser Punkt einmal erreicht ist, wo die berühmte Quantität in Qualität umschlägt, dann fallen selbst die mächtigsten Imperien in rasendem Tempo zusammen wie ein Kartenhaus. Dann, wenn es so weit ist, ist in der Regel nichts mehr reversibel. Keine noch so großmütige, couragierte und risikobeladene Heldentat wird das Schicksal aufhalten können. Der Untergang ist unausweichlich.

Das ist nicht von Anfang an so. Noch während alles strahlt und viele glauben, der Zenit sei noch nicht erreicht, tauchen langsam, unscheinbar, aber doch vernehmbar für die aufmerksamen Beobachter erste Zeichen auf, die darauf hinweisen, dass irgendetwas sich gedreht hat. Böse Zungen nennen diese Zeichen die ersten Signets der Dekadenz.

Da passiert ein kleiner Fehler und die Beteiligten tun ihn einfach so ab. Da benimmt sich jemand daneben und alle meinen, so etwas käme im Leben eben vor. Da greift jemand, der es nicht nötig hat, in die Kasse, wird erwischt und verurteilt, und alle loben das hervorragende Rechtssystem und niemand fragt sich, wie es kommen kann, dass selbst privilegierte Menschen auf derartige Gedanken kommen können. Da verliert man einen Wettkampf, und die meisten Menschen verweisen beruhigend auf frühere Erfolge, ohne den Misserfolg ernst zu nehmen und zu analysieren. Oder es drohen manche mit Konsequenzen, die sie nie ziehen. Und das wiederholt, und dennoch lässt man sie weiter gewähren. Wenn derartige Dinge in den Alltag geschlichen sind, hat der Trend auf den Punkt ohne Umkehr bereits begonnen. Die Dekadenz ist dabei, der Blüte den Rang abzulaufen.

Niemandem, der oder die diese Zeilen liest, wird entgangen sein, dass viele der beschriebenen Fälle bereits zu unserem Alltag gehören. Besonders in den letzten Tagen und Wochen sind es zwei Ereignisse, die die These, dass die Dekadenz im Vormarsch ist, in starkem Maße erhärten.

Bei dem einen Fall handelt es sich um die Eskapaden des Politikers Seehofer, der es fertig brachte, eine Kanzlerin vor sich herzutreiben, die Glaubwürdigkeit der Republik im internationalen Kontext zu beschädigen und sich wegen einer Marge von Flüchtlingen zu verkämpfen, die ein einziger Regierungsbezirk verkraften könnte. Und, als er glaubte, nicht einhundert Prozent seines Planes umsetzen zu können, von seinem Rücktritt schwadronierte, was nicht das erste Mal in seiner Karriere war und von dem er schnell wieder absah, als es brenzlig wurde. Und? Alles geht so weiter wie bisher. Keine Konsequenzen. Als Fazit steht die Ermunterung zur fortgesetzten Illoyalität.

Und der andre Fall ist das Desaster der deutschen Fußballmannschaft auf dem Turnier in Russland. In der Vorrunde ausgeschieden ist das Land noch nie. Vielleicht lag es schlichtweg an der schlechten Aura, die diese WM umgab und in der deutlich wurde, dass Deutschland sich international merkwürdig dumm positioniert hat. Dass nach dem fatalen Abschneiden der „Mannschaft“ keinerlei Konsequenzen gezogen wurden und alles so bleibt, wie es war. Schlimmer noch, der Trainer, der für den sportlichen Erfolg wie Misserfolg die Verantwortung trägt, war vor dem Turnier der Arbeitsvertrag bereits verlängert worden. Der DFB machte ihn quasi zum Beamten auf Lebenszeit, ohne Rücksicht auf das Ergebnis.

Beide Ereignisse sind keine kleinen Indizien, sondern mächtige Fingerzeige. Die Ära der Dekadenz ist in voller Reife.

Erste Signale

Wie lange es auch mit dem Zustandekommen gedauert haben mag und wie lange auch Kanzlerin Merkel bereits regiert, es ist immer bezeichnend, welche Signale ein neues Kabinett in den ersten Stunden seiner Existenz sendet. Da kommen die Aussagen heraus, die den neuen Ministerinnen und Ministern als wichtig im Kopf sind. Und das wird ein Akzent sein, der wichtig bleiben wird bei der Weiterführung der Amtsgeschäfte. Dem Personal ist natürlich klar, dass das eigene Klientel eine Aussage erwartet, die im einvernehmen mit der gemeinsamen vertretenen Politik steht. Aber es wird ebenso erwartet, die kommende der Richtung der Politik zu zeichnen. Insofern kann das versammelte Volk dem Kabinett nur danken, denn was es zu hören bekam, sollte sorgfältig notiert werden. Im Grunde genommen bekam es die Kontur dessen, was es von der neuen Regierung zu erwarten hat.

Dass die CDU auf die so genannten rechten Ränder der Gesellschaft setzen wird, bekräftigte sie in eindrucksvoller Weise. Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn provozierte mit einer Sarazin-Analogie: Wer Harzt IV bekomme, sei nicht arm. Flankiert wurde er von dem neuen Heimatminister Horst Seehofer, der das Wort des ehemaligen glücklosen Bundespräsidenten Wulf revidierte, der Islam sei ein Teil Deutschlands. Und die gerade vereidigte neue und alte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen konnte gar nicht anders als sich in das Debakel der britischen Verschwörungstheorie um die Vergiftung eines ehemaligen russischen Doppelagenten mit der Sentenz zu begeben, sie fordere bedingungslose Aufklärung von Russland und unterstütze voll den Kurs von NATOs Stoltenberg, der seinerseits ein Delikt auf einer Parkbank im englischen Salisbury erschütternder findet als die völkerrechtswidrigen Militärschlage der Türkei in Syrien.

Der neue Außenminister Heiko Maas trat in dieser Causa etwas zurückhaltender auf und sprach mehr von gemeinsamen europäischen Anstrengungen zur Vermeidung amerikanischen Protektionismus. Es war kein offenes Bekenntnis zu dem Bellizismus seiner Amtskollegin, aber es ist zu erwarten, dass er ebenso murrend wie einst Steinmeier hinter dem Jauchewagen der Kriegspropaganda herlaufen wird. Und Hubertus Heil, der frisch gebackene Arbeitsminister, erschien auf einer Demonstration von Frauen für gleichen Lohn für gleiche Arbeit, um sie bei diesem Ansinnen zu unterstützen.

Es geht nicht darum, die einzelnen Aussagen zu diskutieren, sondern darum, sie zu protokollieren und daraus eine Kontur zu zeichnen. Und das ist sehr gut nach wenigen Tagen möglich. Die neue Bundesregierung wird weiterhin Teile der Gesellschaft sozial wie kulturell ausgrenzen wollen und die Spaltung der Gesellschaft in Über-Reiche und Allzu-Arme weiter treiben. Sie wird sich ungebrochen in die bellizistische Allianz des von den USA betriebenen Kurses gegen Russland einfügen und die Kriegsgefahr auch in Europa vergrößern. Da wird die eine oder andere Korrektur seitens der SPD-Ministerien nichts ändern. Wieso sich die Bewertung seitens der Wählerschaft daher wird ändern sollen, wird ein Geheimnis derer bleiben, die den Plan so umsetzten. Vielleicht ist es ihnen sogar egal?

Und sollte sich die eine oder andere Formulierung des Kabinetts als zu scharf beziehungsweise zu verwerflich erweisen, dann wird die Kanzlerin wie die Mutter der Nation in Erscheinung treten und suchen die erhitzten Gemüter zu beruhigen, wie in den Fällen Spahn und Seehofer bereits geschehen und vollzogen. Die zukünftige Politik ist bereits deutlich zu erkennen. Nach welchem Regiebuch sie verkauft werden soll, auch. Vieles spricht dafür, dass weitere wichtige Jahre der Selbstklärung dieses Staates sinnlos in den Gully gekippt werden.

Narzisstische Verblendung

Auch wenn es zu den Ritualen eine Demokratie gehört, sollten Wahlkämpfe nicht einfach als irrelevant abgetan werden. Zum einen haben sie zuweilen Unterhaltungswert, auch wenn die meisten Wählerinnen und Wähler wissen, dass es sich um eine Inszenierung handelt, deren Verfallsdatum mit dem Wahltag feststeht. Vielleicht erfährt man auch Dinge, die einfach wissenswert sind, zum anderen entlarven sich die konkurrierenden Parteien so manches Mal, indem sie den Mitbewerbern das System ankreiden, zu dem sie selbst gehören. Das ist zumindest amüsant.

 Was allerdings dem Volke bleibt, ist die Möglichkeit, den Geistes- und Gemütszustand derer, die sich um ein Amt und die Macht bemühen, zu diagnostizieren. Denn aus jeder Wortmeldung sprechen ein Geist und eine Haltung, und wenn es sich um puren Opportunismus gegenüber dem Zeitgeist handelt. Manchmal ist es auch eine Mischung aus allem, Statement, Appell und Schönwetter. Analytisch sind sie alle interessant und jeder Spot, der im Fernsehen ausgestrahlt wird, ist es wert, auf seine offenen und versteckten Botschaften durchleuchtet zu werden.

 Der wohl bis dato denkwürdigste und meisterhafteste Beitrag in diesem Wahlherbst stammt allerdings von der CSU. Jenseits aller Wahlkampfklischees werden hier Botschaften übermittelt, die konzentrierter und streitbarer nicht sein könnten. Da sitzt ein laut vor sich hin räsonierender Horst Seehofer im Oberhemd in einer bayrischen Küche. Vor der obligatorischen Holzwand. Es sieht so aus, als sei es während einer frugalen Brotzeit, auf dem Tisch steht ein Glas Wasser, ein bereits leicht bräunlich schimmernder geschnittener Apfel, ein Salzstreuer und ein Kanten Brot. Die dann eingespielte Mimik, in der sich der Räsonierende immer wieder im Bilde von Rodins Denker ans Kinn fasst, verdeutlicht, dass es sich um das karge Mal des Philosophen handelt. Es soll wirken wie der einsame Monolog des abwägenden, aber sich seiner Sache sicher seienden strategischen Denkers, der die Geheimnisse des Daseins kennt und den Erfolg nur deshalb so seriell einfährt, weil er sich selbst genug ist und die Dialektik des Gewinnens als Erkenntnis mild belächelt. In einem Satz wie „der Erfolg von heute ist der Feind der Zukunft“ wird das deutlich. Und dass Bayern als Referenzstück für erfolgreiches Agieren verstanden werden will, versteht sich dann bereits von selbst.

 Trotz der Professionalität in Aufbau, Wortwahl, Bild und Metaphorik unterliegt auch dieser Beitrag dem Schicksal aller seiner Konkurrenten: Die Betrachter neigen nun einmal dazu, die erzeugte Illusion mit ihrer realen Welt abzugleichen. Diese sieht individuell sehr unterschiedlich aus und es ist bekannt, dass in Bayern auch überproportional viele wirtschaftlich Erfolgreiche wohnen. Aber es gibt auch die Kehrseite, diejenigen, die aus den Metropolen ziehen müssen, wenn sie ihre Jobs verlieren, weil sie die astronomischen Mieten nicht bezahlen können oder einfach nur diejenigen, die in Neuperlach darauf warten, dass das Fass in die Luft fliegt. Und auf der Referenzliste dieser Regierung stehen nicht nur erschütternde Justizskandale, sondern auch das Milliardengrab einer gigantomanisch von Dilettanten betriebenen Alpenbank. Diverse, fragwürdige und verschleierte Polizeieinsätze, Korruptionsvorwürfe, die erst gar nicht untersucht wurden und Steuervergehen, die schon wenige Tage nach der Wahl zu den Akten gelegt werden, sind auf dieser Liste ebenso zu finden.

 Und vieles spricht dafür, dass es einen Archetypus unter den Protagonisten dieses Musterlandes gibt, der so gekonnt in dem Spot der CSU inszeniert wurde. Es ist der der narzisstischen Verblendung.