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Konversion im Konjunktiv

Michel Houllebecq. Unterwerfung

Die Koinzidenz schlug, im wahrsten Sinne des Wortes, ein wie eine Maschinengewehrsalve. Michel Houllebecq, der französische Schriftsteller, der dafür bekannt ist, dass er wie kaum ein anderer mit dem Mittel des Schocks arbeitet, stellte seinen neuen Roman Unterwerfung just an dem Tag den Medien vor, als die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo regelrecht von islamistischen Terroristen hingerichtet wurde. Das, was nun den Hype dieses Romans ausmacht, war von Houllebecq nicht intendiert. Denn im Gegensatz zu seinen sonstigen Büchern hat er gerade in diesem mehr mit einer verhaltenen, eher de-eskalierenden Erzählweise etwas geschildert, was als die Übernahme der politischen Macht durch eine gemäßigte, sehr durchdacht und besonnen vorgehende und von europäischen Verhaltensmustern geprägte islamische Strömung schildert.

Der Roman spielt im Jahr 2022 und bewegt sich auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen ist es die Geschichte eines Hochschullehrers, der als Ich-Erzähler die nahezu typischen und desolaten Zustände eines vereinsamten, individualisierten und skeptisch nach Perspektiven suchenden Intellektuellen illustriert. Die Hochschulkarriere stagniert, der Protagonist, seinerseits Literaturwissenschaftler und Spezialist in Sachen Huysmann, einem eher vergessenen Literaten, der anfangs des 20. Jahrhunderts bereits verstarb und dessen Werk sich um Individualität und Wahrheitsfindung drehte, bis hin zur späten Konversion zum Katholizismus, konterkariert seine eigene Karriere durch Disziplinlosigkeit und hedonistische Eskapaden.

Vor diesem Hintergrund werden Wahlen geschildert, die schließlich in einer parlamentarischen Mehrheit für eine gemäßigte islamische Muslimbruderschaft enden. Das Frankreich des Jahres 2022 ist kulturell tief gespalten. Houllebecqs nahezu geniale Analyse der Verhältnisse unterstellt nicht einen wild gewordenen, sondern einen sehr kalkulierenden politischen Islam, der sich, ohne dass es ausgesprochen würde, des Revolutionsbesteck vieler süd- und mittelamerikanischer Befreiungsbewegungen bedient. Wenn du die Macht willst, dann brauchst du die Lehrer, die Polizei und die Medien, hieß es da. Und genau nach diesem Schema unterwandern die Muslimbrüder diese Institutionen und stellen somit die Weichen für ihre eigenen politischen Mehrheiten. Das ist exzellent inszeniert und verblüfft alle, die mit der Auflistung stereotyper Klischees gerechnet hatten.

Die Beschreibung der politischen Entwicklung ist ein Gedankenspiel ohne Ressentiment. Ganz im Gegenteil, die Überlegungen zu einer europäischen Kultur, die sich im Post-Heroismus, Individualismus und Hedonismus aufgerieben hat, tragen selbstkritische Züge, die dem Räsonnement Glaubwürdigkeit verleihen. Und das Portfolio der aufstrebenden politischen Macht, die sich einem aggressiven Block des Neo-Nationalismus gegenüber sieht, besticht in vielerlei Hinsicht durch ihren am Gemeinwohl orientierten Kollektivismus. Auch sie verfügt über die Gerissenheit, derer es bedarf, um die Macht zu erlangen und zu erhalten, aber sie bedient sich nicht des Terrors.

Der Erzähler bleibt insofern dem Prinzip Houllebecqs treu, als dass er bei der Rolle des Enfant terribles bleibt. Der individualisierte Freak ist es, der dem archaischen Frauenbild der Muslimbruderschaft gar etwas abgewinnen kann, weil er die Unterwerfung als Stimulans sexistischer Phantasien zu akzeptieren bereit ist. Das ist nicht Schwarz-Weiß, es ist die Koinzidenz unterschiedlicher kultureller Befindlichkeiten, die zu der Möglichkeit eines Zivilisationstransfers führt, der weit entfernt ist von allen Horrorszenarien der politischen Propaganda. Die Vertreter der aufstrebenden Macht wirken eher gelassen, weil sie sich im Aufwind der Geschichte sehen. Daraus erwächst eine Toleranz, die auf die individualisierte Kultur destabilisierend wirkt.

Der Schluß, in dem es um die Entscheidung des Protagonisten für die freiwillige Unterwerfung geht, bleibt konsequent im Konjunktiv. Eine ungeheure erzählerische Stärke, die Houllebecq in diesem Kontext das Testat beschert, ein Schriftsteller zu sein, der die unterschiedlichen Ebenen des gesellschaftlichen Seins brillant verweben kann und der Leserschaft einen Horizont der Reflexion beschert, der selten ist.

Das Windmühlenparadigma

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts trat ein Phänomen auf, das zunächst nicht selten von der herrschenden Politik als das Sankt-Florians-Prinzip diskreditiert wurde: Der Protest gegen technische Großprojekte an einem bestimmten Standort. Richtig Schwung bekam die Bewegung, dass sich Bürgerinnen und Bürger gegen derartige Projekte äußerten, als nach der Ölkrise die damalige Bundesregierung auf Kernkraft setzte. Vor allem das badische Wyhl und das norddeutsche Brokdorf wurden nicht nur Fanale gegen die Kernkraft, sondern auch Beispiele eines massiven, entschlossenen Widerstands gegen Kernenergie und für einen breiten Bürgerprotest. Seitdem hat es nahezu Tradition in diesem Land, dass sich die Bevölkerung zusammenschließt und zu verhindern sucht, was durchaus auf formal-demokratischem Wege zustande kam. Der Vorwurf des Sankt-Florian-Prinzips greift jedoch kaum noch. Spätestens in Brokdorf begriff das der Widerstand und die Parole Kein Kernkraftwerk in Brokdorf! wurde relativ schnell um den Zusatz Und auch nicht anderswo! erweitert.

Die Bewegung und ihre Erfolge blieben nicht ohne Wirkung. Sie war ein Zusammenschluss unterschiedlicher sozialer und politischer Gruppen und sie entwickelte sich zum Sammelbecken der ökologisch orientierten Politik in Deutschland. Daraus entstanden zum einen die Grünen, zum anderen etablierte sich der Impetus, technischen Großprojekten den Kampf anzusagen, wenn Mensch und Natur bedroht zu sein schienen. Dass der Staat zunächst die Option der atomaren Energieversorgung mit brachialen Mitteln durchsetzte, ist genauso bekannt wie der jüngste Meinungsumschwung, der auf den Ausstieg aus derselben setzt.

Was von den Massenprotesten blieb und immer wieder aufkeimte war die Form des Widerstandes bei bestimmten Anliegen. Was sich nun abzeichnet, ist eine recht einseitige Reklamierung der Position der ökologischen Notwendigkeit bei gleichzeitig unterschiedlicher Wertschätzung der Protestmotive. Kritiker der ökologischen Argumentation führten nicht zu Unrecht immer wieder Beispiele an, von denen es tatsächlich zahlreiche in der Republik gibt und die einem industriellen Machtzentrum wie der Bundesrepublik das Leben schwer machten: Jahrelange Bauzeitverzögerungen von ökologisch unbedenklichen Großprojekten, die wirtschaftlich sinnvoll und infrastrukturell angebracht waren, weil zunächst Feldhamsterpopulationen umgesiedelt, Unkenmigrationen gesichert oder Fledermausrefugien verlagert werden mussten. Der Rechtsweg wurde durch den Widerstand immer wieder genutzt und die Argumentation blieb ökologisch.

Heute ist zu vernehmen, dass sich im intellektuellen Kernland dieses einstmaligen Widerstandes, der es allerdings bis in die Parlamente geschafft hat, gewaltiger Unmut breit macht, wenn eben diese ökologische Argumentation benutzt wird, um Projekte zu verhindern, die eigentlich als ökologisch sinnvoll erachtet werden. Ein markantes Beispiel ist der wachsende Widerstand gegen die breitflächig auftauchenden Windkrafträderparks. Die Kritiker berufen sich, nicht zu Unrecht, auf die Gefahr für bestimmte Vogelarten wie zum Beispiel den Roten Milan, einen heimischen Raubvogel. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Die vom Land Baden-Württemberg getriebenen Versuche, mit geothermischer Energie zu arbeiten, verursachten bei den bisherigen Projekten bedenkliche Schäden. Eben der verantwortliche grüne Minister mahnte jüngst in den Medien doch Langmut walten zu lassen und Geduld zu haben, eine Argumentation, die unter anderen Umständen und an anderem Ort die Widerstandsbewegung zur Weißglut treiben würde.

Das sich hinter diesem Paradigmenwechsel verbergende Phänomen ist das Resultat einer wohl unwiederbringlichen Etablierung. Die Betreiber der heutigen Energiewende sind in das Lager derer übergewechselt, die das Recht exklusiv für ihre Interessen reklamieren. Das verwundert nicht, weil es immer so ist. Das Einzige, was aus dieser aktuellen Entwicklung positiv resultieren kann, ist die Frage, ob der Post-Heroismus, vor allem in den letzten Jahren als Non-Plus-Ultra der Bürgeremanzipation gepriesen, wirklich die Grundlage für ein Gemeinwesen sein kann. Oder ob es sich dabei nicht doch um eine hedonistische Infantilisierung handelt, die keine positiven Perspektiven zulässt.

Die agrigentinische Weisheit

Die Aporie scheint vorgegeben. Wie erhalten wir noch Lebensfreude in einer Welt, die sich im Augenblick berauscht, aber heruntergerissen wird durch das schlechte Gewissen hinsichtlich einer Zukunft, an die keiner mehr glaubt? Die Inflation des Begriffs der Nachhaltigkeit ist ein eindringliches Symptom für das Auseinanderklaffen eines auf den Moment fokussierten Hedonismus und eine Abstinenz auf eine kollektive positive Prognose. Einmal abgesehen von den Zweifeln, ob die Vergeudung von Ressourcen und die Enthüllung aller weltlichen Geheimnisse tatsächlich zu einer Erhöhung des Genusses führt, die Nonchalance auf die Zukunft ist Abgrund tief.

Es hilft in der Regel nicht, auf historische Entwicklungen zu verwiesen, die den gegenwärtigen Zustand erklären. Zumindest nicht in Bezug auf eine Lösung des Problems. Alles war schon irgendwann mal da und nichts könnte durch eine neue Undurchdringlichkeit überraschen. Gewiss ist, dass die Beschleunigung des Kapitalismus zunächst zu einer Entzauberung und dann zu einer Entsinnlichung der Welt geführt hat. Es ist kein Zufall, dass ernst zu nehmende Kulturkritiker, die jenseits des Mainstreams zu denken gedenken, von einer kollektiven Phase der Pornographie sprechen: Die Gesellschaft als ein Artefakt der totalen Entblößung, die die Aura, den Zauber und den Eros mit einem Schlag ins Jenseits befördert.

Die Pornosemantik tut sich schwer, über den Augenblick hinaus eine Welt zu denken, in der Freiräume existieren, die es ermöglichen, nicht Vorhersehbares Wirklichkeit werden zu lassen. Die Transparenzgesellschaft hat es zur Meisterschaft gebracht, wenn es darum geht, jegliche Form der Existenz in grellem Lichte auszustellen, aber sie hat in gleichem Atemzug zu dieser Meisterschaft die Dynamik der einzelnen Existenzen selbst genau der Zone beraubt, die erforderlich ist, um kreativ wirken zu können. Es handelt sich um den Bereich des Negativen, des Widersprüchlichen, des Absurden, welches nicht positiv darstellbar ist und insofern nicht sein darf. Der Mensch ist verkommen zum Ausstellungsstück, das nicht mehr Mensch sein darf samt seiner Geheimnisse und Gelüste.

Auch wenn die Geschichte nicht immer hilft, so kann sie dennoch auf Augenblicke verweisen, in denen ein heute als modern begriffenes, aber vielleicht auch schon immer vorhandenes Makel in der lichten Stunde einer besonderen Beobachtung aufgehoben wurde. Einer, der sich schon immer im Zwielicht aufhielt und überall, nur nicht in der Eindeutigkeit lokalisierbar war, ist der Kosmogoniker Empedokles. Vor nunmehr 2500 Jahren wirkte er, dachte quer und wurde aus seiner Heimat vertrieben. Er strandete im heutigen Sizilien, für das damalige antike Griechenland die Neue Welt. In Agrigent ließ er sich nieder und war fasziniert von der Lebenseinstellung seiner neuen Landsleute. Sie waren nicht verloren im Kampf um Besitzstand, sie hingen dem Traum einer besseren Welt nach, der geprägt war von dem Wunsch nach der Teilhabe am Augenblick und beseelt von der Mission, etwas schaffen zu wollen, auf das die Nachwelt noch mit Begeisterung schaut.

Empedokles, der vergleichen konnte mit seiner Heimat, in der die Vision erloschen war, drückte seine Bewunderung und Liebe zu den Agrigentinern in einer Beschreibung aus, die bis heute fasziniert und eine Botschaft in sich trägt, die den Zusammenhang von einer sozialen Vision und augenblicklicher Genussfähigkeit so auf den Punkt bringt, eine, Definition, die bis heute Leuchtkraft besitzt. Die Agrigentiner, so Empedokles, bauen, als wollten sie ewig leben, und sie essen, als müssten sie morgen sterben. Schöner kann man es nicht sagen.