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Von Gleichheit, Perspektive und Aktion

Dass ausgerechnet diejenigen, die durch den Begriff des Prekariats so gerne von oben herab qualifiziert werden, die Fähigkeit besessen haben, den mentalen Niedergang der Gesellschaft so prägnant auf den Punkt gebracht zu haben, sollte zu denken geben. Auf dem Schulhof und auf der Straße in der Nacht ertönt schon lange die Diagnose: Du Opfer! Das Ende der heroischen Gesellschaft, die sich über die Leistung des Individuums für ein größeres Ganzes definiert hatte, ist gekennzeichnet durch den Paradigmenwechsel von der Gleichheit der Chancen und dem Einsatz für die Gesellschaft hin zu einer individuellen, ja individualistischen Identität. Jetzt, nachdem die Gesellschaften des Westens bis in die abstrusesten Mikroprofile zersplittert sind, dämmert es auch der im Selbstbildnis so kritischen Intelligentsia. 

Entsetzen macht sich breit über die Auswüchse, die das individualistische Sektierertum der Gesellschaft beschert hat. Auf dem Buchmarkt erscheint ein Buch nach dem anderen, das sich mit dieser Problematik befasst. Die Spannbreite ist weit, sie reicht von rechts bis links, ein Indiz dafür, dass die Diagnose einer Fehlentwicklung nicht so falsch sein kann. Die Motive der Autoren sind unterschiedlich, die einen träumen von der Wiederherstellung der alten Welt, in der die Diskriminierung normal war. Die anderen besinnen sich zurück auf die Zeiten des Erfolgs emanzipatorischer Bewegungen, in denen das Gemeinsame das Entscheidende war. Gemeinsame Interessen, gemeinsame Werte, eine gemeinsame Kultur. 

Die Auswüchse, die das Treiben der Identitären, der Inquisitoren, der Sektierer zeitigen, sind grotesk und sie dokumentieren, in welcher Sackgasse sich Gemeinwesen wie Politik befinden. Gesellschaftlicher Fortschritt, wie er auch immer beschrieben werden mag, ist einer Paralyse gewichen, die an Selbstzerstörung nicht mehr zu überbieten ist. Es liegt auf der Hand, dass es einen Weg zurück nicht mehr geben kann, und es ist offensichtlich, dass es so nicht mehr weiter gehen kann. Wer das vorschlägt, und die inquisitorische Befinndlichkeitsprogrammatik weiter vorantreiben will, bietet keine Option für alles, was ein Gemeinwesen ausmacht. 

Die Sprachvergewaltigung, die Verhunzung von Texten, die Kreation absurder Begriffe, alles wird weiter getrieben, ohne dass sich dadurch eine Perspektive erkennen ließe, die einen gesellschaftlichen Nutzen hätte. Das Kernstück einer Gesellschaft, die in die Zukunft weist, muss das Prinzip der Gleichheit sein. Wird das aufgegeben, dann bleibt, nach dem Aufräumen der umherliegenden Fleischfetzen der individuellen Befindlichkeit, das Recht des Stärkeren, welches von der Spaltung begünstigt wird und Tür und Tor zur brutalen Herrschaft öffnet. Welches, bitte schön, von den vielen Opfern, wird sich dann noch dem widersetzen können? 

An ihren Taten sollt ihr sie messen, heißt es in einem der ältesten abendländischen Sätze. Doch welche Taten werden diejenigen vorweisen können, die ihre Identität als Anfang- und Endpunkt setzen? Die einzigen Taten, die in ihrem Journal stehen, weisen nicht in eine Richtung der Befreiung, sondern in die der Ranküne, der Vergeltung und der Zerstörung. 

Wer standhalten will, schrieb Adorno, einer der immer wieder Stigmatisierten, darf nicht verharren in leerem Entsetzen. Damit dokumentierte er sein Gespür für die Notwendigkeit der Gegenwehr, der aktiven Veränderung, der Gestaltung. Wer standhalten will, der muss sich seiner selbst bewusst sein, gewiss, der muss sich Verbündete suchen, und das geschieht auf dem Feld der Gemeinsamkeit. Und es muss nach Perspektiven gesucht werden, um die gerungen werden kann. Momentan befinden wir uns in einer Periode von Stigmatisierung und Verbot. Sie wird beendet werden durch eine Phase von Perspektive und Aktion. Nicht mehr, und nicht weniger.

Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Agenda!

François de Salignac de La Mothe-Fénelon, ein französischer Geistlicher und Schriftsteller, der bereits im Jahr 1715 verstarb, war derjenige, der die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit miteinander in Beziehung brachte. Damit schuf er lange vor der eigentlichen Relevanz der bürgerlichen Revolution eine Denkaufgabe, die bis heute Bestand hat. Denn die Liaison dieser drei Begriffe ist bis heute selbst vielen aktiven Politikern nicht bewusst. Vielmehr wurde das große Motto der bürgerlichen Revolution meistens als eine Aneinanderreihung von Zielen verstanden, unter denen sich möglichst viele Menschen zusammenfinden sollten.

Die historische Entwicklung vieler bürgerlicher Gesellschaften hat gezeigt, dass die Krisen, in die  diese jeweils gestürzt sind, in einem Missverhältnis der drei Begriffe zueinander bestand, während die Blütezeiten jeweils dadurch ausgezeichnet waren, dass sich die herrschende Politik auf die Wechselseitigkeit und die Balance von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bezog.

Die Freiheit ist ein Signet eines bestehenden Willens und der vorhandenen Stärke, sie leben zu wollen. Gleichheit bedeutet das formale Recht eines jeden, vor dem Gesetz mit jedem anderen konkurrieren zu können. Brüderlichkeit wiederum ist die gesellschaftliche Übereinkunft, sich auch um jene zu kümmern, die trotz der formalen Gleichheit aufgrund welcher Umstände auch immer in Not geraten sind, zu kümmern. In dieser Kombination hat die bürgerliche Idee eine geniale Formel bekommen, um sich eine Balance schaffen zu können, die durch die Dynamik von Eigentum und Produktivität ständig bedroht ist. Der bürgerlichen Gesellschaft liegt eine gedachte Humanität zugrunde, die sie de facto nie wird komplett einlösen können, die jedoch, wenn spirituell vorhanden, in der Lage ist, die auseinander strebenden und aufeinander zusteuernden Kräfte zusammenzuhalten und vor einander zu bewahren. Das Prinzip ist mit den drei Begriffen einfach formuliert, aber es ist ist ein kompliziertes Konstrukt.

Die historische Phase, in der wir uns befinden, ist eingebogen auf die Straße der großen Krisen. Es ist das Ergebnis einer langen, nahezu exklusiven Bezugnahme auf das Prinzip der Freiheit. Die Freiheit derjenigen, die Willen und Mittel hatten, ihre Interessen durchzusetzen, dominierte seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan, über Tony Blair und Gerhard Schröder bis hin zu Wolfgang Schäuble und Emmanuel Macron. Sie alle traten und treten ein für den Wirtschaftsliberalismus, für Steuersenkungen, für Staatsrückbau, für Deregulierung und Privatisierung. 

In der Folge dieser Politik wurde die formale Gleichheit zu einem obszönen Verweis, weil die verfügbaren Mittel und die Lebensunterschiede in der Gesellschaft so exorbitant voneinander abzuweichen begannen, dass nur noch von einer Farce gesprochen werden kann. Und es kam hinzu, dass das Maß völlig aus den Fugen geriet. Wenn es im Strafmaß schmerzhafter wird, sich ein Stück Bienenstich vom Blech zu schnappen als den Staat steuerlich um Millionenbeträge zu übervorteilen, dann ist das Prinzip der Gleichheit geschändet.

In Zeiten wie diesen von dem Prinzip der Brüderlichkeit zu sprechen, erscheint nahezu als nostalgische Wehleidigkeit. Sie wurde als erste geopfert und spielt de facto in der neoliberalen Welt keine Rolle mehr. Ausgehend von der Maxime einer ausgleichenden Rolle der bürgerlichen Gesellschaft muss das Fazit gezogen werden, dass Gleichheit und Brüderlichkeit der Freiheit geopfert wurden.

Die Krise der liberalen Demokratie, über die allenthalben lamentiert wird, ist selbst verschuldet. Sie hat den Starken, die nur stark sind, weil sie gesellschaftlich nicht in die Pflicht genommen werden, alles geopfert. Auf der Agenda der nächsten Jahre müssen Gleichheit und Brüderlichkeit ganz oben stehen!

Die Bundesregierung als Koranschule?

Auch die Reaktion kann Mutter der Erkenntnis sein. Die Demonstration im sonntäglichen Paris, an der mehr als 1,5 Millionen Menschen teilnahmen, hat alles, was es bisher an Reaktionen auf den islamistischen Terror gab, in den Schatten gestellt. Die Qualität dessen, was dort artikuliert wurde, war ebenfalls einzigartig. Und dennoch gibt es viele Stimmen, die diese Manifestation relativieren möchten. Zum Teil können die Argumente nachvollzogen werden, zum Teil erscheinen sie wie eine nihilistische Bankrotterklärung.

Das eine Argument, das zu denken gibt, ist die Frage, wieso die französische Bevölkerung erst jetzt und in dieser Weise reagiert, ob wohl alleine im letzten Jahr bereits tausende von Juden das Land in Richtung Israel verlassen haben, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten und Ziel terroristischer Anschläge waren. Die Verbitterung, die aus dieser Beobachtung spricht, ist nachvollziehbar und sollte zu denken geben. Aber was hinter dem Heute liegt, ist unwiederbringlich verloren.

Die andere Kritik an der Demonstration nährt sich aus den Bildern der offiziellen Politik, die untergehakt in einem eigenen Block unterwegs war und bei ihrer Charakterisierung kaum mit dem politischen Tenor der von der Masse vorgetragenen politischen Programmatik in Einklang stand. Das ist sicherlich nicht falsch, aber deshalb die ganze Aktion zu diskreditieren und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Massenaktion en bloque als Kretins abzustempeln, die an einer Schmierenkomödie teilgenommen haben, spricht auch von einer Verbitterung. Allerdings einer, die in die falsche Richtung, nämlich in die Arme des Zynismus drängt.

Was allerdings als Reaktion nahezu den Atem raubt, ist das, was die prominenten Teilnehmer aus der Bundesrepublik als ihre persönliche Schlussfolgerung aus der Pariser Demonstration mit nach Hause nahmen. Die Kanzlerin diktierte bereits am Tag darauf während eines türkischen Staatsbesuchs in die Mikrophone, der Islam sei ein Teil Deutschlands. Das war trivial und ist nicht ihr Ressort. Und bereits am selben Abend der Demonstration erklärte der Minister des Innern im TV wieder einmal den Islam und sprach sich gleichzeitig für gesetzliche Maßnahmen aus, um die Terrorbekämpfung zu verbessern, was aus seiner Sicht nur mit der Einschränkung von Freiheiten zu bewerkstelligen ist.

Zur Erinnerung: Die Parolen der Pariser Demonstration fokussierten sich auf die bürgerlichen Freiheiten, auf die Gleichheit und auf die Solidarität, die auf dem Prinzip der Brüderlichkeit beruht. Gleichzeitig reklamierten sie den Laizismus, d.h. die Trennung von Kirche und Staat. Die deutsche Reaktion darauf war genau das Gegenteil. Angesichts der darauf folgenden Demonstrationen wurde deutlich, dass die Gesellschaft auf eine tiefe Spaltung zutreibt. Das politische Personal machte auf sich aufmerksam, indem es mehrheitlich die Aufrüstung des Sicherheitsapparates und den Abbau von Freiheiten als dringend erforderlich reklamierte. Allein schon aufgrund dieser Beobachtungen fallen positive Prognosen über den weiteren Verlauf der bundesrepublikanischen Entwicklung schwer.

Der Kulminationspunkt des Absurden wurde und wird allerdings durch eine Besonderheit verursacht, die weit in die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft hierzulande zurück geht und die die deutsche Republik auf ewig verfolgen wird. Die nicht vollzogene Trennung von Kirche und Staat hat dazu geführt, dass religiöse Belange immer wieder Einzug in den politischen Diskurs finden. Je mehr Religion allerdings in diesem Diskurs eine Rolle spielt, desto weniger Aufklärung findet in ihm satt. Die beste Schlussfolgerung aus den Pariser Ereignissen wäre auch hier die endgültige Trennung von Kirche und Staat. Dann wäre auch Schluss mit grotesken Veranstaltungen, in denen ein Bundesinnenminister den Islam erklärt. Die Bundesregierung sollte die Exekutive des politischen Willens der Bevölkerung sein und, mit Verlaub, keine Koranschule.