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Makarenkos Motto

Das Phänomen, mit dem wir uns momentan alle auseinandersetzen müssen, besteht in der Ungewissheit und der aus dieser abgeleiteten Tristesse. Warum das Nicht-Wissen zumeist einen Weltschmerz hervorbringt, liegt wohl im Wesen des Menschen begründet. Zumindest im Wesen dessen, den wir in den gefühlt  final-zivilisatorischen Gesellschaften des Westens antreffen. Kein Veränderungsprozess kann dort beginnen, ohne dass ein immenser Aufwand betrieben und immer wieder kommuniziert wird, dass die bevorstehende Veränderung nichts schlechtes ist, dass sie sogar Vorteile bringen wird und dass niemand bei dem Prozess zu Schaden kommen wird. Die Skepsis bleibt immer und es ist ein aufregendes wie aufzehrendes Geschäft, den Wandel zu gestalten.

Warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Dass es in einer Gesellschaft grassiert, die seit der Renaissance für eine ungeheure Dynamik steht, ist hinsichtlich des Kollektivbewusstseins etwas absurd, es sei dann, man betrachtet es durch die Brille der sozialen Kosten, die Umbrüche verursachen und die Adresse derer, die in der Regel den Preis bezahlen. Da sind es immer die gesellschaftlich Schwächsten gewesen, d.h. diejenigen, die selbst nicht in der Lage waren, zu gestalten, selbst wenn sie es gekonnt hätten oder diejenigen, die sich schlicht im Sinne Darwin nicht anpassen konnten. Game over! Rien ne va plus! Ob das zu der heutigen Massenskepsis geführt hat? 

Aber, auch das wissen wir, jammern nützt nichts. Das schrieb schon der längst aus der Mode gekommene Pädagoge des revolutionären Russland, Anton Semjonowitsch Makarenko, über den Eingang einer seiner Musteranstalten für die Eingliederung der Besprisornis, obdachloser, vagabundierender Kinder und Jugendliche, die in den Zeiten des zusammenbrechenden Zarismus ein Massenphänomen waren und die heute unter der Chiffre UMAs ihre modernen Vorboten nach Europa schickt. Nicht jammern! Das stand da, und das war der Ausgangspunkt einer harten Pädagogik, die darauf setzte, Menschen heranzubilden, die sich mit eiserner Disziplin selbst aus dem Morast ziehen konnten und die eine Aufgabe darin sahen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Der Schriftsteller Maxim Gorki gehörte als Kind dieser Gruppe an und er beschreibt in seinen autobiographischen Erzählungen die Erfahrungen, die er dort machte, und zwar als seine Bildungsetappen.

Das Jammern, seinerseits Massenphänomen unserer Tage, obwohl im Vergleich mit vielen anderen Ländern die Lebensbedingungen als sehr gesichert gelten, stünde einem Teil der Gesellschaft, aber nicht der großen Mehrheit zu. Insofern handelt es sich um eine Dekadenzerscheinung, die nur den Sinn hat, von der Aktivität konstruktiven Gestaltens abzuhalten und sich an den Szenarien eines möglichen Untergangs zu laben. So lässt sich in der grausamen Dimension der Logik denen, die sich dem Jammern verschrieben haben, eine schlechte Prognose für die Zukunft ausstellen. Das sei all denen ins Journal geschrieben, die eigentlich das Zeug dazu hätten, sich über die Zukunft und ihre Gestaltung Gedanken zu machen.

Und natürlich drängt sich da auch ein Zitat aus den Geschichten aus dem Wienerwald des so unglaublich ums Leben gekommenen Ödon von Horváth auf. Der war bekanntlich auf dramatische Weise den Nazis durch die Maschen gegangen und hatte es bis ins damals noch freie Paris geschafft. Dort flanierte er erleichtert auf den Champs Élysée und wurde bei einem aufkommenden Sturm – von einem herabfallenden Ast erschlagen.

Ach ja, das Zitat: Ich gehe, und weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!

Reise ohne Kompass

Ödon von Horvath war es, der in einem seiner stets lapidar daher kommenden Sätze eine kulturelle Disposition beschrieb, die nach ihm noch weitaus verbreiteter wurde als er es sich selbst vielleicht in den schlimmsten Visionen ausgemalt hätte.

„Ich gehe, und weiß nicht wohin,
mich wundert,
dass ich so fröhlich bin“

hieß es in den Geschichten aus dem Wienerwald. Kulturkritisch betrachtet handelt es sich bei dem Zitat um eine Umschreibung wachsender Strategielosigkeit bei der Gestaltung des Existenziellen. Horvaths Figuren haben gegenüber den realen Zeitgenossen, denen der Autor Botschaften senden wollte, einen großen Vorteil. Sie wirken durch die dick aufgetragene Naivität selbst wie Spielfiguren, mit denen die Betrachtenden sich nicht identifizieren müssen. Insofern ist es eine charmante Strategie, wenn Horvath einen Scherz anbietet und es den Zuschauern überlässt, ob sie die Pointe auf sich selbst anwenden.

Ob sich die gegenwärtige Gesellschaft als eine strategielose bezeichnen würde, steht dahin, dass sie es ist, darüber besteht kein Zweifel. Und sicherlich stehen schon die chaos-theoretischen Argumente auf der scharfen Rampe, die von der modernen Art der massenintelligenten, zufällig entstehenden Qualität schwadronieren. Selbst bei dem Zugeständnis, dass Chaos selbst ein gewaltiges Konstitutionsprinzip darstellt, so ist die Strategielosigkeit von Individuum und Gesellschaft ein Problem.

Das Vorhandensein einer Strategie beantwortet die Frage von Subjekt und Objekt. Individuen oder Gesellschaften mit einer Strategie haben sich für das Agieren entschieden. Auch wenn sie auf diesem Weg Fehler machen oder ihre Ziele nicht erreichen, so haben sie dennoch als handelnde Subjekte einen zweckgesteuerten Lernprozess eingeleitet, der ihnen Erkenntnisse über die Funktionsweise ihrer Welt übermittelt und ihnen die notwendigen Substanzen zur Verfügung stellt, um als handelndes Subjekt zu überleben.

Ohne Strategie haben sich Individuen wie Gesellschaften auf die Domäne der Reaktion eingestellt. Sie kommen nicht zum proaktiven Handeln, sondern ihr gesamtes Spektrum ist die Reaktion. Somit degenerieren reaktive Ensembles zu Objekten, d.h. mit ihnen wird etwas gemacht, und, wieder ein schönes Wort aus der alten Begriffswelt der Grammatik, sie verschreiben sich dem Passiv, so treffend übersetzt als Leideform. Linguistik und Etymologie liefern, wie so oft, gelungene Querverweise auf gedankliche Zusammenhänge.

Die zeitgenössischen Individuen wie die aktuelle Gesellschaft vermitteln den Eindruck, dass die eingangs zitierten Worte Ödon von Horvaths in starkem Maße das umschreiben, was als ein strategieloses Dasein, als eine Reise ohne Kompass und als eine Mutation vom Subjekt zum Objekt beschrieben werden kann. Dort, wo der Wille zur Gestaltung, der dem historischen Subjekt zugeschrieben werden muss, nicht mehr vorhanden ist, dort etablieren sich in der Regel allerlei Profiteure.

Sie profitieren von einem sowohl im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben entstandenen Machtvakuum, in das sie schleichend eindringen, um den Geschäften nachzugehen, die sich für sie als profitabel darstellen, die sich für das Gros der Gesellschaft allerdings desaströs auswirken. Der Wirtschaftsliberalismus ist ein solcher Profiteur, der von der Degradierung zum Objekt, ob selbst gewählt oder durch äußere Gewalt begünstigt, seinen Nutzen zieht.

Dem Wirtschaftsliberalismus wie allen anderen Profiteuren eines Machtvakuums kann nur Paroli geboten werden, wenn Strategien formuliert werden, die den eigenen Willen zu Gestaltung und Verantwortung öffentlich machen.