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Niemand zählt zu den Guten!
Sebastian Haffner. Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933
Es gibt sie, diese Texte, die aufgrund stürmischer Zeiten irgendwann und irgendwo geschrieben und verloren gingen und kaum jemandem bekannt waren. Und dann tauchen sie Jahrzehnte später auf und die Nachwelt bestaunt nicht nur ihre literarische Qualität, sondern auch die historische Weitsicht. Einer jener Texte ist der Sebastian Haffners mit dem Titel „Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914 – 1933“. Geschrieben hat er ihn aus des Perspektive eines jungen Rechtsassessors in Berlin, der Zeitzeuge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde und 1939 im Londoner Exil niederschrieb, was er in diesen Tagen beobachtete und was ihn umtrieb. Haffners Schicksal trieb ihn über Paris nach London, von wo er erst 1954 nach Berlin zurückkehrte. Das Skript seiner Aufzeichnungen, von denen Auszüge in kleineren Exilblättern erschienen waren, blieb unbeachtet in seinem Schreibtisch. Erst nach seinem Tod 1999 entdeckte sein Sohn diese überaus bemerkenswerten Aufzeichnungen, die dann ein Jahr später erschienen und großes Aufsehen erregten.
Nicht, dass Haffners Text die großen, unbekannten Fakten zutage gefördert hätte! Was in besonderem Maße bei der Lektüre unter die Haut geht, ist die Charakterisierung der Deutschen als einem Volk ohne Zivilcourage. Haffner ist nie der außenstehende Beobachter, sondern ein Teil eines psychologisch interessanten wie niederschmetternden Prozesses. Es gab nichts illegales bei der so genannten Machtergreifung, sondern es ging vollkommen legal zu und alle machten mit. Und der von der Herrschaftspsychologie erfolgreich eingesetzte Trigger war die Uniformierung und das soziale Experiment der Kameradschaft. Haffner beschreibt, wie er in einem Lager von Rechtsreferendaren zur Vorbereitung des Examens kaserniert wurde und einem Prozess unterworfen wurde, der mittels der genannten Mechanismen hervorragend funktionierte und selbst die größten Skeptiker instrumentalisieren konnte.
Dass er – im Gegensatz zu einer unzählbaren Gruppe anderer Verdammter – das Glück hatte, diesem historischen Fiasko noch entkommen zu können, hat ihn weder bei der Verfassung dieses Textes noch bei seinen späteren Schriften (u.a. Anmerkungen zu Hitler) zu dem Irrtum der Überheblichkeit verführen können. Das Buch hat nach seiner Veröffentlichung in der Bundesrepublik große Resonanz gehabt und zu sehr eingehenden Diskussionen geführt, die sich um die von Haffner beobachteten Unzulänglichkeiten bei einer vom Individuum ausgehenden Abwehr des Totalitarismus drehten. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Institutionen, die eine Demokratie ausmachen, nicht per se Bestand haben und resilient sind, sondern dass sie auf die Bereitschaft jedes einzelnen Gesellschaftsgliedes angewiesen sind, auch in stürmischen Zeiten aufzustehen und sie verteidigen zu wollen.
Selbst das so genehme Bild von der gewaltsamen Revolution gegen das System bekam auf einmal Risse und es begann eine kritische Inspektion in die eigene Befindlichkeit. Bei der Betrachtung der heutigen Auseinandersetzungen scheint mir der Text des jungen Sebastian Haffner, verfasst 1939, aktueller denn je. Es wird mit Begriffen und Institutionen jongliert, als stünden sie außerhalb der gesellschaftlichen und damit individual-psychischen Realität. Die Frage, Was hat das alles mit mir zu tun? ist immer aktuell. Und Haffners Text zwingt jeden Leser, sich damit auseinanderzusetzen. Und der Abgleich zeitigt erschreckende Erkenntnisse. Nichts ist besser geworden! Und niemand zählt zu den Guten! Lesen Sie das Buch!
