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Kritisch, scharf und unbestochen!

Geert Mak, Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums

In den Jahren 1860/61 erschien in London Charles Dickens Roman „Great Expectations“ als Fortsetzungsreihe in einer Tageszeitung. Das Werk beschrieb die Geschichte des Waisenjungen Pip, der sich in eine wilde, harte, von Kämpfen und Gegensätzen geprägten Welt kämpft. Das Werk  gilt bis heute als Ausgangspunkt eines ganzen Genres: des europäischen Entwicklungsromans. Geert Mak, der niederländische Autor, der mittlerweile durchaus als ein Chronist des Europa-Projektes der Europäischen Union bezeichnet werden kann, hat nach seinem Buch „In Europa“ aus dem Jahr 1999 nun, zwanzig Jahre später, die beiden zurückliegenden Jahrzehnte unter die Lupe genommen. Nicht umsonst wählte er, in Bezug auf die von ihm wahrgenommene Situation um die Jahrtausendwende, den Titel: Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums. 

„In Europa“ war die Reise quer durch Europa und Gespräche mit vielen Menschen, die etwas zu sagen hatten: Arbeiter, Journalistinnen, Fischer, Politiker, Straßenhändler, Unternehmerinnen. Mak sprach mit denen, die oben stehen und die Geschicke bestimmen und denen, die wie Treibsand durch die Geschichte geblasen wurden. Der Tenor, den er damals im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen wahrnahm, waren die großen Erwartungen. Doch, so seine Frage heute, wie hat sich das Europa, das unter der Überschrift Europäische Union figuriert, eigentlich entwickelt?

Die Antwort ist vielschichtig. Mak geht an das Unterfangen mit einem kleinen Trick, indem er eine junge Historikerin, die im Jahr 2069 lebt, auf die letzten beiden Jahrzehnte seit der Jahrtausendwende blicken lässt. Und dann steigt er ein in eine Chronik, die zunächst einmal die  Leserschaft, die ja an all dem auf die eine oder andere Weise beteiligt war, in Staunen versetzt. Denn sehr dicht war die Geschichte, und wenn es jetzt so aneinandergereiht so da steht, ist es kaum zu glauben.

Ganz zu Anfang, als die Hoffnung noch groß war, kam kurz nach der Einführung des Euro bereits 9/11 und die von den USA danach begonnen Kriege in Afghanistan und im Irak, beides Ereignisse, die schwerwiegende Folgen für Europa haben sollten, denn zum einen spalteten sie, zum anderen waren es die ersten Ereignisse, die zu großen Fluchtbewegungen führten. Und es folgte eine Krise nach der anderen. Die Finanzkrise, die Bankenkrise, die Schuldenkrise, die Ukraine-Krise, die NATO-Bündniskrise, die Migrationskrise, die Corona-Krise. Kaum war das eine Problem einigermassen aus Sicht der Verantwortlichen gelöst, stand man schon im nächsten, zumeist noch größeren.

Mak lässt sie alle, die er vor zwanzig Jahren aufgesucht hatte, wieder sprechen. Aus den großen Erwartungen ist Ernüchterung geworden. Trotz mancher Fortschritte, die immer wieder zu verbuchen waren, ist vor allem eines dabei auf der Strecke geblieben: Der positive Glaube an das Projekt, unabhängig vom Geldbeutel. Diejenigen, die schon immer keine Lobby hatten, haben sie auch nicht in dem Projekt EU bekommen. Die Kritik, die Mak in dem Buch trotz seines eigenen, eindeutigen Bekenntnisses für das Projekt, immer wieder mitschwingen lässt, bezieht sich weniger auf strukturelle Aspekte, sondern mehr auf den Geist, der in diesen Jahrzehnten dominierte. Den des Wirtschaftsliberalismus, der die Bilanzen der Starken zu atemberaubender Lektüre machte und bei den Schwachen das Leben schwerer machten und die Zerstörung des Gemeinwohls begünstigten. 

Und es fehlt natürlich auch nicht der Blick über den europäischen Zaun, d.h. die Entstehung einer multipolaren Welt, in der China eine immer größere Rolle spielt, sich Russland im Zangengriff befindet und die USA sich immer weiter von Europa entfernen. 

Große Erwartungen – erfüllt werden sie bei der Lektüre des Buches: Nirgendwo findet sich eine dermaßen makellose Chronik der letzten beiden Jahrzehnte, und nirgendwo ist das kritische Auge so scharf, und der Auto so unbestochen! 

ISBN-10 : 3827501377
ISBN-13 : 978-3827501370
Gebundene Ausgabe : 640 Seiten
Größe und/oder Gewicht : 16.3 x 5.1 x 23.2 cm
Herausgeber : Siedler Verlag; 2. Auflage (31. August 2020)
Sprache: : Deutsch

Das Krisenmanagement beerdigt die Vision

Geert Mak. Was, wenn Europa scheitert

Es wäre schon eigenartig gewesen, wenn ausgerechnet derjenige, der eines der besten Bücher über Europa der letzten Jahrzehnte geschrieben hat, während der Eurokrise des Schweigen wählen sollte. Der niederländische Journalist Geert Mak, der mit seinem 2004 erschienenen Buch In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert den Kontinent auf seine eigene Weise ausgemessen hatte und seine kulturelle und politischen Kraftfelder mit einem Gespür für das Entscheidende beschrieben hatte, meldete sich bereits 2012 in einem kleinen Buch, das er in einem halben Jahr während eines Berlinaufenthalts geschrieben hat, zur Krise des Euro und zur Krise Europas zu Wort. Unter dem Titel Was, wenn Europa scheitert, ohne Fragezeichen (!), geht Geert Mak auf die entscheidenden Fragestellungen ein.

Obwohl das Buch vom Datum nicht brandaktuell ist, trifft es mit seinen Thesen immer noch das Wesen dessen, was die meisten Europäer besorgt. Thematisch lässt sich vieles auf den Punkt bringen: Die 2008 ausgebrochene Euro-Krise ist eine wirtschaftliche, die vordergründig mit wenig seriösen Kreditnehmern wie Kreditgebern zu tun hat. Es existiert eine kulturelle Kluft in Europa, die sich im ökonomischen Denken widerspiegelt. Die protestantische Achse der Vernunft, ihrer Vernunft, sind nach Mak die Länder Deutschland, die Niederlande und Finnland, die im Hinter- wie im Vordergrund von der Philosophie von Schuld und Bestrafung die Finanzkrise zu meistern suchen und damit den südeuropäischen Ländern auf Jahrzehnte jede Perspektive der Gestaltung nehmen wollen.

Das wesentliche Problem nach Mak ist jedoch die Dominanz der wirtschaftlichen Interessen bei der Entwicklung Europas. Sehr früh wurde die politische Vision des gemeinsamen Hauses, in dem ein Verständnis über die Diversität herrscht, aber gemeinsam und demokratisch eine Zukunft gestaltet wird, abgelöst durch ein Krisenmanagement, das sich mit Verweis auf die Dringlichkeit der zu lösenden Probleme aus der politischen Transparenz verabschiedet hat. Eines der großen Dilemmata sind nach Mak die in Hinterzimmern agierenden, mächtigen Figuren einer Bürokratie, deren Besetzung das Ergebnis von Geschacher ist. Die Abkoppelung der EU von einer politischen Vision und die zunehmende Zentralisierung durch eine Bürokratie haben Europa in eine lebensgefährliche Krise getrieben, die, und das ist nach Mak das Schlimmste, zu einer mentalen Depression geführt hat.

Es gehört zu den Qualitäten des Autors, dass er zudem einen Blick auf den Globus riskiert, um die Rolle Europas im Verhältnis zu entstehenden neuen Machzentren zu beleuchten. Akteure wie die USA, China, Russland, Indien und auch Brasilien denken in diesem Mobile, während Europa politisch keine Vorstellung über die eigene Rolle in der Welt der Globalisierung erzielen konnte. Die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners scheitert nicht nur in der Binnenstruktur, sie verhindert auch eine akzeptable Perspektive im globalen Kontext. Die Rolle Deutschlands, welches aufgrund seiner ökonomischen Stärke eine Führungsrolle übernehmen müsste, wird laut Mak nicht oder falsch ausgefüllt.

Es ist nicht von ungefähr und für manche Europäerinnen oder Europäer schmerzhaft, dass Mak zuguterletzt auf Roosevelts New Deal verweist, einer Konzeption, die nicht das Land kaputt gespart, sondern investiert hat, die den Beteiligten ein Gefühl vermitteln konnte, auf sie komme es an und die Zeichen setzte, die gemeinsame Emotionen mobilisierte. Gerade daran mangelt es beim gegenwärtigen Management in Europa komplett. Dazu reicht die Phantasie der Protagonisten einfach nicht aus. Das vom Autor angeführte europäische Netzwerk, das wir heute schon in unseren Notizbüchern haben, nimmt uns zwar keiner mehr. Aber es ist ein schwacher Trost.