Schlagwort-Archive: Gabriel Garcia Marquez

Gabriel Garcia Marquez. Erzählung und Nationenbildung

Gabriel Garcia Marquez ist tot. Mit 87 schied er dahin. Nach einem langen, erfüllten Leben, in dem er Werke schuf, die lange noch gelesen werden. Hundert Jahre Einsamkeit oder Die Liebe in Zeiten der Cholera sind große Erzählungen, die heute unter dem Begriff des magischen Realismus geführt werden. Doch das ist eine literarische Kategorie, die zwar das Werk beschreibt, aber nicht seine Wirkung. Nach dem Tod von Marquez verordnete der kolumbianische Präsident eine dreitägige Staatstrauer. Das ist die Wirkung. Gabriel Garcia Marquez war der große Erzähler der kolumbianischen Nation. Er hatte das geschaffen, was vielleicht am besten als die Metapher des kolumbianischen Volkes beschrieben werden kann. Er entnahm seinen Stoff aus den alltäglichen Lebensbedingungen, aus den Merkwürdigkeiten, die die Leute daraus ableiteten und woraus sie ihre Motivation entwickelten. Das heißt, Marquez traf den Nerv des Geistes und der Emotion. Es gelang ihm, indem er sich zeit seines Lebens als Bestandteil des großen Ganzen fühlte und auch so verhielt. Marquez lebte in keinem Elfenbeinturm, in dem die Sprache und die Bilder des Volkes verblichen.

Es sind die großen Erzähler, die in der Lage sind, an so etwas wie einer nationalen Identität mitzuarbeiten, die einzelne politische Episoden und Systeme überdauert. Charles Dickens war so einer, den in London mehr als eine halbe Millionen Menschen zu Grabe trugen. Tolstoi und Puschkin, die in Moskau ihre Denkmäler haben, ertrinken täglich in einem Meer frischer Blumen. Und ein Zola oder Balzac sind auf ihren Friedhöfen zu Paris bis heute nie allein. Und ein John Steinbeck gehört zum amerikanischen Geschichtsunterricht bis in unsere Zeit, ein Mark Twain genießt immer noch Kultstatus. Die Zuneigung, die die genannten Schriftsteller bis heute in ihren Ursprungsländern erfahren, resultiert aus ihrer Untrennbarkeit von den allgemeinen Lebensbedingungen und Nöten ihrer Völker. Sie sind der Grundstein, der emotionale Konsensus der Nation.

In Deutschland, dem so genannten Land der Dichter und Denker, das spöttisch von Franzosen wie Briten so bezeichnet wurde, weil es sich mit der Nationenbildung so schwer tat, fehlen derartige Gestalten. Natürlich gab es große Schriftsteller und Erzähler, aber sie trafen keinen nationalen Konsens. Schiller läutete mit seinen aufregenden Dramen das bürgerliche Zeitalter
ein und schrieb für die treibende Klasse, Goethe war schon das, was man die deutsche Krankheit nennen könnte, er schuf Geniales, aber als Staatsbeamter, Heine musste als jüdischer Bildungsparvenü ins Exil, Lessing, emanzipatorisch wie er war, schrieb Fabeln, die zu anspruchsvoll waren, Brecht widmete alles der neuen Klasse des Industriezeitalters, Thomas Mann verschrieb sich einem elitären Ästhetizismus. Der große Erzähler, der in aller Bücherschrank steht und der zur Überlieferung des allgemein als gültig Erachteten konnte in dem nationalen Bruchstück, das Deutschland immer blieb, nicht gedeihen. Es gab diese Erzähler, aber sie hatten immer nur regionale Wirkung.

Es kann nur bei einer Feststellung bleiben. Die Sinnstiftung, die durch die literarische Überlieferung des nationalen Psychogramms einem Land widerfährt, blieb in Deutschland aus. Umso bewundernswerter ist es, wenn so etwas woanders gelingt. Die Deutschen sollten sich dessen bewusst sein. Man kann sie dafür nicht haftbar machen. Aber es erklärt vieles. Umso respektvoller sollte der Blick in die Länder sein, wo die Dramaturgie der Geschichte so etwas schuf. Gabriel Garcia Marquez war für die Kolumbianer so ein Glücksfall. Er ist aus der Geschichte so wenig wegzudenken wie das Volk selbst. Eine Kongruenz, für die es dankbar ist.