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La France und seine Inszenierung

In einem sind sie groß. Bei der Inszenierung eines revolutionären Patriotismus und Pathos macht ihnen so schnell niemand etwas vor. Frankreichs Pfund in der Geschichte, aus dem es den Stoff saugt, den es braucht, um die Aura der Größe zu erzeugen, ist die gelungene Revolution. Etwas ferner und abgespeckt hatten es die Amerikaner bekanntlich vorgelebt und der Pathos, mit dem beide Länder in der Lage sind, sich zu inszenieren, hat mit den Erfolgen der Revolutionen zu tun. Wer die beiden Länder darum beneidet, muss sich dessen bewusst sein. Der Stoff aus dem die Träume sind, die bis heute die eigene Bevölkerung zu berauschen in der Lage sind, stammt aus Gewehrläufen und dem Schnalzen der Guillotinen.

Dass das zeitgenössische Frankreich in seiner real existierenden Form damit nichts mehr zu tun hat, belegt die Zeitungslektüre der letzten Jahre. Obwohl – neben den zählbaren Faktoren existiert tief im Innern der Volksseele noch so etwas wie eine Spur der Revolte. Verglichen mit den Nachbarn östlich des Rheins lebt da noch irgendwo die Gewissheit, dass mit Streik, Aufstand und Rebellion etwas verändert werden kann. Und gerade deshalb haben sich die Regisseure der Olympiade entschieden, daraus das eine oder andere zu holen und auf die Weltbühne zu bringen. Das Ca ira, das alles wird gut, wenn wir nur kämpfen, komme, wer da wolle, hatte genauso seinen Stellenwert wie eine über die Seine reitende Jeanne d´Arc, die zur Nationalheldin wurde, weil sie das Land vor fremder Herrschaft bewahrte.

Die Brüche in der französischen Geschichte fanden in dieser Inszenierung nicht statt. Das ginge zu weit. Die Kolonialgeschichte, die heute bis in die Banlieues reicht, fand allenfalls in manchen Delegationen oder dem Team der Flüchtlinge ohne Nationalität statt. Ebensowenig wie man sich seitens des Olympischen Komitees entschließen konnte, über die politischen Grenzen hinweg alle Sportlerinnen und Sportler dieser Welt zuzulassen. Doch Schwamm darüber! Man inszeniert den Mythos, und alles, was stört, bleibt hinter den Kulissen.

Halsbrecherisch hingegen war bei dieser Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 der Versuch, die revolutionäre Tradition mit den Bedürfnissen und der Lebensweise heutiger metropolitaner urbaner Eliten gleichzusetzen. Auf der Bühne, und ist sie noch so dezentral und verwegen, funktioniert das, im richtigen Leben nicht. Auch da hilft die Zeitungslektüre. Momentan wird La France durch ganz andere Dinge bewegt. Da geht es, wie überall im verglühenden Westen, um die Folgen des Wirtschaftsliberalismus und die willentliche Dekonstruktion der Commune, die letztendlich bereits mehr als dreißig Jahre andauert. Und alles, was in unserem Nachbarland noch geschehen wird, genauso wie in dem politischen Zwilling jenseits des Atlantiks, wird uns hier auch noch blühen.

Zwar neigen wir eher zur Depression, was mit unserer Geschichte und damit zu tun hat, dass wir uns momentan von beflissenen Vollzugsbeamten des amerikanischen Protektorats regieren lassen – aber der Mut kehrt zurück beim kämpfen. Auch diese Erkenntnis ist bei uns nicht neu. Goethe brachte es schon auf den Punkt:

„Eines Tages klopfte die Angst an die Tür. Der Mut stand auf und öffnete. Aber da war niemand draußen.“

Mit ihrem Ca ira sind uns unsere Nachbarn immer schon ein großes Stück voraus. Das ist ihr historisches Verdienst, das ihnen niemand nehmen kann. Egal, wie sie sich auch inszenieren, diese wunderbare Gewissheit bleibt ihnen! Und dafür beneiden wir sie. Und dafür lieben wir sie.

Die Jeunesse dorée und ihr Ablaufdatum

Ja, alles hat seine historische Vorlage. Von der Form weicht es so manches Mal ab, aber der Kern kommt wieder. So, wie einstige Kampf- und Heldentage, die sich aus Kriegen, Kämpfen und Revolutionen speisten, irgendwann zu blutleeren Zeremonien wurden, die nur noch der Anlass für einen vollen Bauch und zu viel Wein waren, ging es auch ganzen Klassen und Perioden. Heute, am 1. Mai, wo immer wieder Menschen gesichtet werden, die irgendwo am Wegesrand besoffen im Gras liegen und an die Vergänglichkeit des Anlasses erinnern, tauchen aktuell ganze Gruppen von Menschen auf, die politisch eine Rolle spielen. Wie gesagt, in einer bestimmten Periode. Dann geht auch für sie das Licht wieder für ein Jahrhundert oder länger aus.

So hat die Französische Revolution, nachdem sie die Machtverhältnisse geklärt hatte, sich danach konsolidierte und mit der Hinrichtung Robespierres den Grande Terreur beendet hat, verschiedene Phasen durchlaufen, die teils vorantreibenden, aber auch restaurativen Charakter hatten. Die Gruppe, die sich bei der Restauration einen Namen machte, wurde schnell von allen Beobachtern die Jeunesse dorée genannt. Die vergoldete Jugend rekrutierte sich vor allem aus dem unterlegenen Adel und den Neureichen, die gute Geschäfte mit der Armee gemacht hatten. Die Bewegung hatte zum Ziel, die Französische Revolution als Episode zurück in die Geschichtsbücher zu verweisen. So romantisch die Bezeichnung einer vergoldeten Jugend auch klingen mochte, es handelte sich dabei um handfeste Reaktionäre, die auch mit Knüppeln bewaffnet nächtens auf den Straßen lauerten und so manchen Sansculotten oder Jakobiner zusammenschlugen.

Obwohl Kinder der revolutionären Epoche, übertrafen sie alles, was sich die alte Generation der Monarchisten noch gewagt hätte. Sie kaschierten ihre Rückständigkeit durch pittoreskes, den Moden die Fratze zeigendes Auftreten und erweckten so zunächst bei vielen Zeitgenossen den Eindruck einer rebellischen Jugendbewegung. Die sie nicht waren. Die Jeunesse dorée war ein Ausbund der Reaktion und eine Stoßbrigade des Monarchismus. Mit der neuen Zeit, die ein ganzes Volk ausgerufen hatte, hatten sie ihrerseits nichts zu tun. Ihr Handwerk war die Gewalt, immer schön kaschiert, aber immer mit dem Ziel, die alten Besitz- und Einflussverhältnisse, für die die Monarchie stand, wiederherzustellen und zu sichern.

Nun stellt sich die Frage, warum mir die Geschichte dieser Jeunesse dorée gerade jetzt wieder einfällt? Warum drängen sich mir beim Anblick vieler, die heute eine aktive Rolle im politischen Spektrum dieses Landes spielen, die Bilder des historischen Originals auf? Ja, die Fragen sind natürlich suggestiv. Wir sind Zeugen einer historisch etwas gewandelten Jeunesse dorée, die aus gesicherten Verhältnissen stammt, die die Rechte des gemeinen Volkes nicht schätzt und die sich an allem beteiligen, was die Demontage von Demokratie und Recht verspricht. 

Das Licht historischer Akteure erlischt in der Regel dann, wenn die Einschätzung ihrer historischen Rolle zum Allgemeingut wird. Dieser Prozess wird erleichtert, wenn den Akteuren ein Freiraum zur ungezügelten Gestaltung zugestanden wird. Das ist bei dem heute und hier existierenden historischen Ableger der Jeunesse dorée der Fall. Die Erkenntnis über ihre historische Rolle verbreitet sich derzeit wie ein Lauffeuer. Es läuft!!!  

Über die mentale Krise individualistisch ausgerichteter Gesellschaften

Die mentale Krise der extrem individualistisch ausgerichteten Gesellschaften ist offensichtlich. Auf der Wunsch- wie auf der Angebotsseite ist das Bild skurril: Menschen, die nicht ihr Bedürfnis 1:1 behandelt sehen, tendieren dazu, sich komplett zu verweigern. Und die Bestellung eines Produktes mit den entsprechenden individuellen Spezifikationen artet zu regelrechten Biointerviews aus. Das Konsumverhalten führt, zumindest in bestimmten Segmenten, dazu, dass der Stoff für eine gesellschaftliche Diskussion ausgeht. Worüber sich noch unterhalten, wenn jeder sich in seiner sublimierten Blase befindet? Und, wo keine Gemeinschaft, da ist auch kein Konsens mehr darüber, ob es sich lohnt, sich für das Gemeinsame einzusetzen. Ja, der Verlust der Gemeinschaft und der Psychoritt in den Individualismus hat zum Massenphänomen des Post-Heroismus geführt. 

Henry Kissinger pflegte häufig sein Erlebnis mit dem damaligen Außenminister der Volksrepublik China, Zhou Enlai, zu erzählen. Bei ihrem ersten Treffen fragte Kissinger Zhou, von dem er selbstverständlich wusste, dass er sich zu Studienzwecken in Frankreich, England, Belgien und Deutschland aufgehalten hatte und sich in der neueren europäischen Geschichte auskannte, was er von dem Projekt der bürgerlichen Revolution und seinem Konzept des Individualismus halte. Zhou blickte Kissinger irritiert an und antwortete, das könne man doch beim besten Willen nicht sagen, die Französische Revolution sei doch gerade einmal 200 Jahre alt. 

Das Ganze spielte sich vor ziemlich genau 50 Jahren ab und zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln. Die Frage wäre, hätten wir die Gelegenheit gehabt, vor 50 Jahren wesentlich wohlwollender in Bezug auf das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft beantwortet worden als heute. Dazwischen liegen unter anderem dreißig Jahre des Wirtschaftsliberalismus, der den Individualismus wie eine Turbine beschleunigt und die auf Grundlage der individuellen Freiheiten gegründeten Gesellschaften in ein mentales Prekariat geführt hat. 

Trotz aller Polarisierung, vor allem gegenüber offen autoritären oder oder auch kulturell kollektivistischen Gesellschaften, werden vor allem die imperialistischen Staaten, die aus einem wohl verstandenen Individualismus eine Raubtierphilosophie geformt haben, ihrerseits, betrachtet man ihre innere Befindlichkeit, zunehmend autoritärer und totalitärer. Der Blick von außen, aus der Ferne, führt zu dem Urteil, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, welches seine Prinzipien in der Französischen Revolution in Stein gemeißelt hat, sich in der heißen Phase des Scheiterns befindet. Unveräußerliche Rechte werden nach Bedarf interpretiert oder sogar annulliert und der Staat argumentiert auf seinem Weg in der Autoritarismus diese Notwendigkeit mit der Verteidigung der Demokratie. Übrigens der größte Irrtum in der Verteidigung demokratischer Rechte, auf den bereits Benjamin Franklin hingewiesen hatte, als er noch in Paris weilte und im noch monarchistischen Frankreich für Waffenlieferungen für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Englische Krone warb.

So fliegt der Kot historischer Vergehen gegen die Prinzipien der Freiheit und die unverbrüchlichen Rechte, die mit ihr einhergehen, bis in die Gegenwart. Und wir, als Leidtragende wie Zeugen, dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die Prinzipien, um die es dabei geht, die falschen sind. Eine Flucht in die Autokratie ist mit Abstand der dümmste Schluss, der aus der Krise des beschleunigten und hoch gekoksten Individualismus gezogen werden kann, auch wenn die vermeintlichen Verfechter der Demokratie sich bereits auf diesem Weg befinden. Da einen klaren Kopf behalten, fällt in der Tat schwer. Die Freiheit des Individuums ist eine Voraussetzung einer freien Gesellschaft. Die bleibt aber nur solange frei, sie die Einsicht in das unabdingbar Gemeinsame bewahrt werden kann.