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Der Flaneur mit den Kroko Schuhen

Um es gleich zu sagen. Die ersten Spiele besagen noch gar nichts. Abgerechnet wird am 13. Juli. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Auch wenn die Niederlande Spanien demontierte, der stolpernde König kann sich noch erholen. Und auch wenn Costa Rica das stämmige Uruguay im Schweiße unaufhaltsamer Euphorie niederkämpfte, am Lohntag wird sich zeigen, wer gebummelt hat. Selbst Griechenland hat immer wieder bewiesen, dass es nicht so schnell stirbt, wie die Tagesbörse glaubt. Ein Spiel jedoch hat gezeigt, was sich wohl auch in diesem Turnier nicht mehr ändern lässt. Wenn alte, imperiale Größen aufeinander treffen, dann ist vieles gesetzt. Italien gegen England war wieder einmal so ein Spiel.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die Deutschen mögen die italienischen Tugenden nur in der Gastronomie oder im Urlaub, aber nicht im Fußball. Da bilden sie eine Klasse, an die die Helden aus Germanistan nur selten heran reichen. Der Reporter im deutschen TV dokumentierte bereits sehr früh, woran das meistens scheitert. Man kann das Spiel der Italiener nicht lesen. Diese wussten sehr genau, welchen Belastungen sie über die Gesamtdauer des Spieles ausgesetzt sein würden. Deswegen spielten sie lange Zeit One-Touch-Stafetten und ließen die motivierten Engländer laufen, die nach Jahren der Capello-Intervention zu begreifen scheinen, was Spielkultur ist, aber ihren Meister gefunden hatten. Und als der Kommentator bereits von italienischen Verzweiflungstaten sprach, schossen diese das Führungstor. So kann es kommen. Und zu Boden gehst du nur, wenn du den Schlag nicht kommen siehst, das wusste schon Muhammad Ali.

Inszeniert durch ihr Genie Andrea Pirlo! Er allein ist es wert, sich die Spiele Italiens anzuschauen. Er, von dem man glaubt, es flaniere ein Gigolo in Kroko Schuhen mit einem Schoßhündchen an der Leine über eine üppige Wiese der Po-Ebene und der dann plötzlich aus dem Fußgelenk alle Formationen auf dem Platz ad absurdum führt und Gladiatoren wie Balotelli die Möglichkeit gibt, mit einem einzigen Hammerschlag dem langweiligen Gewese ein Ende zu bereiten. Pirlos Freistoß in der Nachspielzeit, der die Latte Englands noch einmal küsste, beschrieb eine Flugbahn außerhalb der physikalischen Gesetze. Das ist große Kunst, der etwas innewohnt, das die im Profanen materialisierte Welt zum Träumen verführt.

Was immer wieder die Gemüter beflügelt ist die Frage, warum die englische Liga so stark und das Nationalteam vergleichsweise so schwach ist. Die Erklärung scheint kein Mysterium zu sein. Das Verhältnis bildet den Irrweg ab, den das Land seit Margaret Thatcher beschreitet. Es ist die Abkehr von der Eigenleistung und die Glorifizierung der Börse. Wer Leistungen nur noch einkauft, ohne selbst zumindest eine Ahnung davon zu besitzen, wie sie erstellt wird, wacht irgendwann auf und hat einen Brummschädel wie nach Unmengen Bitter Ale. In den Topp-Klubs der Insel sind Engländer Mangelware. Und die Leistungsträger spielen in Brasilien gegen England. Es ist zu hoffen, dass man das in London so langsam begreift, die jetzigen Erfahrungen böten einmal wieder eine Chance.

Den Deutschen, die sich mit Italien so schwer tun, sei zum Trost gesagt, dass es sich natürlich um eine Ambivalenz handelt. Wir, die ehrlichen Arbeiter, wir lieben den Luftikus, der das Schöne schafft. Nur gewinnen darf er nicht, das ist ungerecht. Umgekehrt ist es übrigens ähnlich. Viele der italienischen Tifosi sind erbost über die Erfolge der Teutonen, wenn sie nur durch Blut, Schweiß und Tränen zustande kommen, aber so ganz ohne Grazie. Im internationalen Projektmanagement ist man übrigens weiter: Da werden deutsch-italienische Teams als optimale Lösung gesehen. Da gilt die Kombination aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen Qualitäten als das Nonplusultra. Liebt euch, ihr mögt euch doch!

Brassed Off

Selbst wenn die inszenierte Sentimentalität, die Konsumhysterie und die Gewissensrituale durchschaut sind, bleiben in der deutschen Psyche bestimmte Ereignisse verhaftet, die eine hohe Emotionalität garantieren. Auch mir geht es so. Ein Weihnachtserlebnis, das mir nie aus dem Sinn gehen wird, stammt aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Noch bevor hier in Deutschland die Bastionen der organisierten Arbeiterbewegung gestürmt wurden und der Neoliberalismus Konturen annahm, zerfetzte eine Premierministerin in Großbritannien, die sich selbst eine eiserne Lady nannte, den hoch industriellen englischen Norden wie einen Plüschtiger. Die Bergarbeitergewerkschaften, trade-unionistisch sui generis, halfen da nicht mehr, nur eine kleine, radikale, trotzkistische Union organisierte die Streiks gegen den Untergang. Hier in Deutschland versuchten wir die Streikenden zu unterstützen und schickten von unseren zusammen gekratzten letzten Kröten zu Weihnachten Lebensmittelpakete in die Streikregionen. Es half nichts. In wenigen Jahren wurden mehr als 100 englische Zechen geschlossen und während sich hier die Kumpels noch die Augen rieben über das, was in Deutschland eben erst begonnen hatte und noch verstärkt vor sich gehen sollte, waren die britischen Miners schon Geschichte. Das war sehr bitter, und den Weihnachtsabend, an dem wir uns in meiner Familie wegen der Streikenden in England zu streiten begannen, werde ich nie vergessen.

Jahre später, genauer gesagt 1992, erschien ein englischer Low Budget-Film mit dem Titel Brassed Off. Er erzählte noch einmal die Geschichte der englischen Bergarbeiter am Beispiel einer Blaskapelle. Das Schicksal dieser Blaskapelle und ihrer Protagonisten wurde zur Metapher von Englands Norden, dem Sterben der Zechen und der Mentalität von Bergleuten schlechthin. Für mich, der ich in einer Bergarbeiterstadt aufgewachsen war, fungierte Brassed-Off fast als Nachweis für das soziale Umfeld meiner Herkunft. Wenn Menschen, die aus anderen Regionen oder Milieus kamen und bestimmte Werte oder Verhaltensweisen meinerseits nicht verstanden, dann riet ich ihnen, sich diesen Film anzusehen.

Die Story des Films ist schnell erzählt: Eine Zeche, von der das ganze Gemeinwesen abhängt, ist kurz vor der Schließung. Gleichzeitig kämpft die Blaskapelle der Bergleute gegen ihren Niedergang. Die allgemeine Depression ihrer Mitglieder und die finanziellen Schwierigkeiten aller deuten auf ein schnelles Ende hin. Wäre da nicht zum einen der Dirigent und Mitgründer der Kapelle, der große Autorität besitzt und eine junge Analystin, die die Rentabilität der Zeche prüfen soll, aber aus dem Ort stammt und Enkelin eines Mitbegründers der Kapelle ist. Sie darf in der Kapelle mitspielen, weil sie im Ort geboren ist und das Flügelhorn ihres Großvaters beherrscht und gleichzeitig ihren Auftrag bei der Zeche verschweigt. Und der Dirigent geht seinen Weg ohne sich von seinen Überzeugungen abbringen zu lassen. Über viele Probleme und entsetzliche Schilderungen über den Niedergang des Gemeinwesens und die Zerstörung des Selbstwertgefühls mausert sich die Krisen geschüttelte Kapelle zum Sinnbild von Selbstrespekt und Kampfgeist. Zum Schluss gewinnt die Kapelle einen nationalen Preis in Londons Royal Albert Hall, den sie aber nicht annimmt, um auf Thatchers Politik der Zerstörung von Kohle- und Stahlindustrie hinzuweisen. Auch die Zeche in dem Ort wird geschlossen.

Seit Erscheinen des Films, der mich immer an die eigenen Aktionen in der Weihnachtszeit erinnerte, sehe ich ihn mir um Weihnachten herum an. Einfach weil es ihm so großartig gelingt, das Wesen der Bergarbeiter einzufangen und weil er mir immer wieder furchtbar unter die Haut geht. Im Jahr 2000 wurde Brassed Off auf einem Filmfestival in Jakarta gezeigt. Noch einmal: in Jakarta. Die Lebensbedingungen in dieser schnell wachsenden asiatischen Metropole sind kaum mit denen im alten Europa zu vergleichen. Dennoch interessierte mich gerade die Reaktion der Zuschauer auf den Film. Schon während er lief, in einem Kino mit 1.500 Plätzen, das restlos ausverkauft war, war es still. Als die Lichter angingen, erhob sich das überwiegend junge Publikum und applaudierte, nicht dem Film, sondern den englischen Bergleuten, die es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab. Der Applaus wollte nicht enden, schweigend standen sie da und hörten einfach nicht mehr auf. Sie machten die bereits untergegangenen Kämpfer zu Helden.

Tacheles

Wenn Angela Merkel ein politischer Konkurrent aus den eigenen Reihen zu nahe kommt, so hat sie aus den Regieanweisungen zur Machterhaltung sehr früh von ihrem Ziehvater Helmut Kohl gelernt, dann macht sie mit ihm gemeinsam einige Bewegungsfiguren, bis dieser dann plötzlich, zu seinem eigenen Erstaunen, weit im Abseits steht und noch lange rätseln wird, wann denn die Kanzlerin von seiner Seite gewichen ist. Das hat sie mit vielen bereits gemacht und in der Union wird die Sorge immer größer, dass die Ära nach Merkel auf den Oppositionsbänken stattfinden wird, weil das regierungsfähige Personal von Mutti komplett durchs Sieb gedrückt worden ist.

Einer, und zwar kein Unbedeutender, weil er schließlich MP in einem einstigen Stronghold der CDU war, nämlich in Baden-Württemberg, fand sich als EU-Kommissar in Brüssel wieder. Bis auf eine Rede in schlechtem Englisch, die alle Vorurteile gegenüber Schwaben bestätigte und zu nichts beitrug als zum seichten Niveau der Kritik, das sich überall durchgesetzt hat, hatten wir lange nichts mehr von ihm gehört. Doch Günther Oettinger wäre nicht Günther Oettinger, wenn er nicht irgendwann auftauchte, um Dinge anzusprechen, bei denen die bekannte Höflichkeit der Sänger schweigt.

Und, damit ihm niemand eine böse Absicht unterstellen konnte, suchte er sich ein popeliges Meeting der belgischen Handelskammer aus, um mit kräftiger Hand auf den europäischen Sack zu schlagen. Lange genug hat er den Betrieb der EU-Politik und der EU-Bürokratie studiert, um zu wissen, wovon er redet. Und natürlich macht er das als der Mann mit seiner Weltanschauung und Überzeugung. Aber was er sagte, hatte es in sich und Bundesregierung wie EU täten gut daran, sich nicht auf eine lapidare Schmähung des Kritikers zu einigen.

Oettinger sprach zum Beispiel über den Zustand einzelnr Mitgliedsstaaten und unterließ dabei die Freundlichkeiten. Neben Ländern in Südosteuropa, in denen neben der wirtschaftlichen Lage auch noch das Demokratieverständnis allen Anlass zur Sorge gebe, sprach er die eu-defätistische Position Großbritanniens zum einen und die abenteuerliche Abkehr von der Wertschöpfung und die alleinige Konzentration auf die Börse zum anderen an. Im Falle Frankreichs kritisierte er eine zu hohe Staatsquote, zu viele öffentlich Bedienstete, zu hohe Rentenleistungen und eine mangelnde Effektivität der Verwaltung. Ganz nebenbei attestierte er dem sonst doch so entschlossen und dynamisch auftretenden Francois Hollande, dass er keinen Plan habe.

Ein ganz besonderer Fall für Günther Oettinger ist natürlich Deutschland. Der Bundesrepublik bescheinigte er, sie stünde im Zenit ihrer Leistungskraft, was sie der Agenda 2010 Gerhard Schöders zu verdanken habe, was weder die CDU und die heutige SPD goutieren werden. Besser, so Oettinger, werde es aber auch nicht, denn die Republik befasse sich nicht mit Themen, die der Optimierung, Reform und Erneuerung dienten, sondern man tummle sich unter Überschriften wie Fracking und Frauenquote, die von den wahren Problemen ablenkten.

Zu jedem einzelnen Punkt kann man sicherlich eine dezidiert andere Meinung haben und die mit guten Argumenten untermauern. Dass allerdings ausgerechnet im so weit vom wirklichen Leben liegenden Brüssel jemand aus der Kaste des politischen Personals die Courage aufbringt, die offizielle Rhetorik in den Wind zu schlagen und einmal Tacheles zu reden, sollte unbedingt honoriert werden. Weder im Berliner Parlament noch aus den Reihen des Brüsseler Staffs ist das sich mehr und mehr etablierende Unwesen der EU so scharf kritisiert worden. Da muss man redlich bleiben und den Mutigen loben und sich die Argumente noch einmal genau ansehen!