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Ein trauriges und ein dummes Gesicht

Bis jetzt hat die Europameisterschaft nichts gezeigt, was auf eine Weiterentwicklung des Fußballs hindeutet. Stattdessen unterstützt der bisherige Verlauf die These, dass im Sinne einer Diagnostik doch einiges festgestellt werden kann. Aber die diagnostischen Resultate beziehen sich weniger auf das, was auf dem Platz geschieht, als auf die Organisation und die so genannte Kultur in den Verkehrsformen in den Stadien, um die Stadien herum und auf den Kommunikationskanälen.

Auf dem Platz war bis jetzt nichts Neues zu sehen. Frankreich debütierte mühselig und ohne System, die Schweiz rettete sich gegen Albanien mit einem guten Torwart und England zeigte wieder einmal mehr, dass das Getöse der Ankündigung wesentlich lauter ist als das, was hinterher auf dem Platz zu beobachten ist. Bis jetzt hat Wales gezeigt, dass sich Enthusiasmus, ein Superstar und der Wille von Edelamateuren zu etwas formen lassen, das sich mit Spaß ansehen lässt.

Das, was nicht als Fortschritt präsentiert werden konnte, brillierte im Rückschritt. Um aus der EM ein neues Kapitel anti-russischer Propaganda zu machen, dazu bedurfte es vor allem randalierender englischer Fans in Marseille, eines tosendes Pfeifkonzerts selbigen Mobs beim Abspielen der russischen Hymne und eines ZDF-Reporters, der das Spiel Russland gegen England zu einem Festival des Ressentiments machte.

Wäre das Spiel nach den Begutachtungen des Scharlatans, der das Spiel kommentierte gegangen, dann hätte das Spiel mit 17:0 für England ausgehen müssen. Es endete allerdings 1:1. Das mag nun von denen erklärt werden, die sich dafür berufen fühlen. England blieb schlicht vieles schuldig, was niemand eingestehen wollte. Russland spielte taktisch einen überschaubaren Fußball, der keinerlei großartige Idee vermittelte, aber ausreichte, um dem hochgepimpten Favoriten die Suppe zu versalzen. Bleibt abzuwarten, ob noch etwas von diesem Turnier zu vermelden ist, was in fußballerischer Hinsicht interessant wäre.

Dafür darf aus dem fernen Louisville in Kentucky berichtet werden, dass dem türkischen Präsidenten Erdogan einmal gezeigt wurde, wer die Tischsitten bestimmt. Das hat natürlich nichts mit der EM zu tun, aber mit dem traurigen Bild, das Europa momentan vermittelt schon. Besagter Erdogan wollte nämlich das Begräbnis Muhammad Alis nutzen und zu einer Propagandaschau für sein immer unberechenbareres Ego machen. Er hatte geplant, vor Alis Grab Verse aus dem Koran zu zitieren und eine kostbare Reliquie aus Mekka auf den Sarg zu legen. Das mit dem Sarg hätte ihn schon etwas skeptisch stimmen sollen, denn Muslime benutzen so etwas bekanntlich nicht. Aber das ist auch nur ein Nebenaspekt.

Jedenfalls landete Erdogan mit seiner Entourage, unter der sich wie selbstverständlich seine Bodyguards befanden, in den USA und verkündete den Organisatoren von Alis Beisetzung seine Pläne. Diese teilten ihm trocken mit, dass die Zeremonie so durchgeführt werde, wie Ali es gewollt hätte und keine Veränderungen vorgenommen werden würden. Als sich der Mann, der keinen Widerstand gewohnt ist, umrahmt von seinen Schlägern, aufzuplustern begann, tauchte eine Abteilung des FBI auf und bat ihn um ein Gespräch. Dieses Gespräch kann am besten mit der Formulierung beschrieben werden, dass ihm gehörig heimgeleuchtet wurde. Überliefert ist nur, dass gerade noch einmal Zeit blieb, um seine Maschine wieder aufzutanken, bevor der ganze Tross sich wieder in der Luft Richtung Türkei befand.

Was lehrte dieses Wochenende bisher? Europa hat eine ernsthafte politische Krise und der türkische Potentat beginnt sich mit dem Imperium anzulegen. Wäre er noch lernfähig, so müsste er nun wissen, dass er nicht nur schnell wieder in den Lüften schwebte, sondern so langsam auch ganz ernsthaft in Lebensgefahr. Doch auch das wissen wir: je größer die Macht, desto schwerer tut man sich mit dem Lernen.

Fußball als Kriminalgeschichte

Philip Kerr. January Window

Nirgendwo werden kollektive Emotionen so ausgelebt. In manchen Familien vergleicht man es mit den großen Schicksalsschlägen, die nur Kriege und Katastrophen über Einzelschicksale bringen. Und es geht um Geld. Um sehr viel Geld. Nicht nur, weil diejenigen, die dem Genre verfallen sind, über diese Kanäle zum Konsum bewegt werden können. Sondern auch, weil sie es sind, die meistens auch woanders bestimmen, was gekauft wird und was nicht. Wie verfallen die einen, so verständnislos die anderen. Alle, die sich im Metier bewegen, ob aktiv oder passiv, teilen die Passion und die Exklusivität, und alle, die außen vor bleiben, runzeln die Stirn, weil sie die Intensität um etwas scheinbar so Lapidares kaum begreifen. Es geht um Fußball, was sonst.

Eben wegen der Intensität und der Omnipräsenz des Fußballs ist es relativ überraschend, dass er in der Literatur eine eher untergeordnete Rolle spielt. Das hat weniger mit der von den Fußballgegnern unterstellten Primitivität der sich dort tummelnden Akteure zu tun, denn die Fußballwelt ist ein realistischeres Abziehbild einer Gesellschaft als alle anderen Milieus. Und dennoch: Die schreibende Zunft hielt sich lange fern. Einer, natürlich ein Brite, genauer gesagt ein gebürtiger Schotte, der in London lebt und sich als Arsenal Fan geoutet hat, ist der Kriminalautor Philip Kerr. Als solcher genießt er internationalen Ruf, vor allem wegen seiner Romane über den in der Nazi-Zeit in Berlin ermittelnden Bernie Gunther, in denen erstklassige Kriminalgeschichten mit einer kritischen Reflexion der politischen Zeitumstände verwoben werden.

Philip Kerr nun hat sich an das Thema Fußball herangewagt und mit der Figur Scott Manson bereits den Protagonisten für weitere, in der Fußballwelt spielende Kriminalgeschichten, geschaffen. In dem Roman January Window, der Titel ist der englische Ausdruck für das Transferfenster zwischen Hin- und Rückrunde, geht es um alles, was in der intensiven britischen Fußballwelt von Belang ist. Um Spieler und deren Transfers, um Homophobie in der Öffentlichkeit und der Angst, sich zu outen, um osteuropäische Sponsoren mit ungeheuren Vermögen und zweifelhafter Vergangenheit, um versteckte Gelder und Erpressung, aber auch um Enthusiasmus, um Leidenschaft, um Ehre, um Loyalität und um Tragik. In der von Kerr gewählten Handlung tauchen reale Vereine auf, fast alle Londoner Clubs werden erwähnt, Akteure wie Arsene Wenger und José Mourino kommen zu Wort, aber die eigentliche Handlung spielt bei einem fiktiven Verein und mit fiktiven Akteuren.

Vielleicht ist diese Konstruktion genau das, was ein wenig ablenkt und irritiert oder die Fiktion etwas unglaubwürdig erscheinen lässt, weil der Lesende immer wieder versucht, das in der Fiktion Normale mit der Unglaublichkeit in der Realität zu vergleichen und zu zweifeln beginnt. Dennoch ist das Buch ein Thriller, produziert von einem, der sich bestens auskennt sowohl im Handwerk des Kriminalautors als auch im Metier des Fußballs. January Window ist vielleicht nicht der spannendste Krimi, aber es ist eine sehr gelungene Milieustudie, die die Freiheit genießt, sowohl die faszinierenden wie die abstoßenden Seiten ein und derselben Welt miteinander konkurrieren zu lassen. Vielleicht ist es dadurch sogar ein Buch, das denen empfohlen werden sollte, die mit Fußball nichts am Hut haben. Abgelenkt durch eine spannende Handlung erführen sie mehr über diese Welt, als sie es sonst, durch Vorurteile imprägniert, zuließen.

Luz

Manchmal ist es sinnvoller, die Komplexität des Daseins mit seinen unterschiedlichen Wirkungsfaktoren zunächst auszublenden. Die einfache Beobachtung allein reicht in glücklichen Momenten aus, um das ganze Gewebe um das Sein von selbst hervorzuzaubern. Da braucht es weder geographische noch kalendarische Daten, weil das Profane alles verrät. Der Mikrokosmos ist oft stärker als die ganze Wucht des Makrokosmos.

Auf einem Platz vor einem kleinen Café direkt am Meer, wo vorwiegend Gäste aus England verkehrten, die vor allem wegen der dort angebotenen Scones mit Clotted Cream erschienen, bediente eine junge Frau. Sie bestach durch ihre Übersicht und Eloquenz. Die junge Frau ging von Tisch zu Tisch, während sie stets alle Gäste im Auge behielt. Bei jeder Bestellung und jeder Auslieferung unterhielt sie sich mit den verschiedenen Gästen. Hier war es eine kurze Unterhaltung auf Englisch, dort verfiel sie ins Portugiesische oder Spanische, mal brillierte sie mit einem guten Deutsch und selbst Niederländisch hatte sie in ihrem Repertoire. Über ihre sprachliche Kompetenz hinaus wirkte sie mit ihrer Fähigkeit, auf die konkreten Bedürfnisse und die unterschiedlichen Vorstellungswelten der Gäste einzugehen. Letztere dankten es ihr mit freundlichen Gesten und üppigen Trinkgeldern.

Doch da war etwas, was auch auffiel. Immer, wenn sie zurück in das kleine Café ging, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wurde ernst. Ab und zu rauchte sie eine Zigarette mit dem Staff hinter der Theke. Dann wirkte sie sehr geschäftsmäßig und unterschied sich in keiner Weise von den zumeist gestressten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer jeden Gastronomie. Und jedes Mal, wenn sie zurück auf den frei liegenden Platz mit den Tischen kam, der eine wunderbare Sicht auf das Meer bot, verwandelte sie sich in die Meisterin der Interaktion, die allen Gästen so sehr gefiel. Sie war schätzungsweise dreißig Jahre alt, sah sehr gut aus und verriet durch ihre Physiognomie eine gewisse Extravaganz.

Wie gesagt, bei genauer Betrachtung fiel ein sich immer wieder vollziehender Rollenwechsel auf. Wenn sie ins Café ging, dann schien es, als kehrte sie hinter die Kulissen zurück. Und immer, wenn sie von neuem auf dem Platz erschien, wirkte es, als betrete sie eine Bühne. So verwunderte es eigentlich nicht, als sich in einem Gespräch herausstellte, dass sie von Beruf Schauspielerin war und im fernen Lissabon gearbeitet hatte. Auf die Frage, was sie hierher, ans Meer, in einen Ort getrieben habe, in dem sich Touristen aus anderen Ländern herumtrieben, antwortete sie, dass ihre Bühne habe schließen müssen, weil es keine Zuschüsse mehr gegeben habe. Aber, und das schoss aus ihr heraus, obwohl sie gar nicht gefragt wurde, als Kellnerin verdiene sie nicht nur besser als in ihrem eigentlichen Beruf, sondern die Einkünfte seien sogar regelmäßig und sie habe geregelte Arbeitszeiten.

Dennoch wurde deutlich, dass sie etwas vermisste, das ihre von ihr gewählte Rolle mit den Scones nicht kompensieren konnte. Wie es so ist, derartige Gespräche setzen sich manchmal nach Tagen fort. Und so ergab sich, dass sie an einem Nachmittag, an dem relativ wenig Betrieb war und sich über dem Meer Wolken gebildet hatten, mehr von sich gab, als es ihr ihre Rolle erlaubt hätte. Da wurde deutlich, dass ihr Lebenstraum zerstört worden war. Nicht nur ihre Bühne, so berichtete sie, hätte schließen müssen, sondern alle Bühnen und Arrangements, die noch irgend eine Möglichkeit geboten hätten, in ihrem Beruf als Schauspielerin weiter zu arbeiten. Sie töten alles, sagte sie, sie töten alles in Portugal, die Kultur und die Hoffnung. Dabei blickte sie aufs Meer und für einen kurzen Augenblick traten dieser so lebenslustig wirkenden Frau Tränen in die Augen. Doch ehe sie in sich zusammenbrach, fand sie Halt am Horizont und sie zwang sich ein Lächeln zurück ins Gesicht. Wie gesagt, die Frau hatte Talent. Als sie den Tisch abräumte, hätte das auch eine Metapher sein können für die Jugend Europas. In Luz, am Meer, als die Wolken am Himmel waren.