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Ein grandioser Krimi aus Frankreich!

Jérôme LeRoy, Die letzten Tage der Raubtiere. Kriminalroman

Schon nach wenigen Seiten der Lektüre von Jérome LeRoys neuestem Roman, „Die letzten Tage der Raubtiere“, wurde mir wieder schmerzlich bewusst, was die gegenwärtige Situation Frankreichs von der in Deutschland unterscheidet. Nicht nur, dass westlich des Rheins eine breite politische Bewegung gegen die hoch brisanten Fieberphantasien des Neoliberalismus entstanden ist, im Gegensatz zur deutschen Bräsigkeit, sondern auch, dass es einen Konnex zwischen politischem Bewusstsein und guter zeitgenössischer Literatur gibt. Jérome LeRoy ist dafür ein exzellentes Beispiel. Er versteht es, die politischen Verhältnisse und ihre Widersprüche in eine Handlung zu packen, die unterhält und gleichzeitig inspiriert. Da liegt ein Stück Kriminalliteratur vor der Leserschaft, die nicht hilft, den drängenden Fragen der Zeit zu entfliehen. Sie nimmt die Leser mit auf eine dramatische Reise und hinterlässt von Spannung erschöpfte Individuen, die dazu gezwungen sind, die politischen Zusammenhänge und Entwicklungen noch einmal vor dem inneren Auge Revue passieren zu lassen und sich zu fragen, was die Erkenntnisse von ihnen verlangen. Mehr kann man von einem solchen Genre nicht erwarten.

„Die letzten Tage der Raubtiere“ ist eine Erzählung, die im Hier und Jetzt spielt. Es ist ein Buch, das alles, was von politischer Relevanz im heutigen Frankreich ist, zum Thema hat. Da gibt es die Aushebelung des klassischen Parteiensystems durch das Bündnis, das Macron ins Amt getragen hat. Da existieren die rechten Bündnisse, die aus alten Kolonialallianzen, aus Fragmenten der ehemaligen Fremdenlegion und aus politischen Karrieristen bestehen. Es wabern Verbindungen  zwischen Neoliberalen und strikten Ökologen. Alle sind irgendwie miteinander verwickelt, niemand gehört zu den Guten und das Böse ist immer präsent. Natürliche sind die vom Autor in die Handlungen verwobenen Protagonisten keine Abbilder derer, die wir aus den Nachrichten kennen, alle sind bewusst als Fiktion identifizierbare Figuren, die dennoch das Stigma  der realen Existenz vor sich hertragen. Das ist große Kunst, es ist nicht platt, sondern subtil, es ist ein Lehrstück ohne Zeigefinger. 

Die Handlung ist brandspannend, es handelt sich ja um einen Krimi. Die Handlung spielt vor den Lockdowns der Corona-Krise, sie touchiert das brisante Thema selbst, sie läuft entlang der ethnischen Konflikte in den Banlieues, sie thematisiert die Gelbwesten und die spontaneistischen Formen des Widerstandes aus dem studentischen Milieu. Sie zeigt die Allianzen jenseits der Öffentlichkeit, die verschiedenen Fraktionen der rechtsnationalistischen Bewegung und das Illusionäre bei den Linken. Niemand wird verschont. Und vielleicht handelt es sich dabei ja auch um eine kleine pädagogische Hilfe für die Auseinandersetzung mit den aktuellen Zuständen. Es geht wesentlich brutaler zu, als viele noch denken. Es geht um die absolute Macht. Und wer dorthin will, der schreckt vor nichts zurück. Deshalb die Raubtiere. Mit denen haben wir zu tun. Ob wir wollen oder nicht. Und hoffen wir, dass ihre Tage irgendwann gezählt sein werden.

Und, als deutscher Leser, ist unmissverständlich zu konstatieren, dass unsere französischen Freunde, die lange Zeit von hier aus belächelt worden sind, irgendwie in ihrer DNA haben, dass sie wissen, wann es ums Ganze geht. Sie sind uns weit voraus. 

„Die letzten Tage der Raubtiere“, Jérome, LeRoy. Ein absolut großartiges Buch. Natürlich bei der Edition Nautilus erschienen! Die war unserer Zeit immer weit voraus! Chapeau! 

  • Herausgeber  :  Edition Nautilus GmbH; Deutsche Erstausgabe Edition (6. März 2023)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Taschenbuch  :  400 Seiten
  • ISBN-10  :  3960543131
  • ISBN-13  :  978-3960543138
  • Originaltitel  :  Les derniers jours des fauves

Ein brandaktueller Polit-Krimi aus der Weimarer Republik

Leonhard F. Seidl, Vom Untergang. Kriminalroman

Jenseits der zeitgenössischen Romanliteratur, die sich selbstvergessen in der Widerspiegelung eigener Befindlichkeiten verliert, existieren auch bemerkenswerte Versuche, massive Ladungen von Denkstoff über kurzweilige Transportmittel in die Fläche zu senden. Zu diesen zählt auch der bei der unerschütterlichen Edition Nautilus erschienene Kriminalroman von Leonhard F. Seidl. So verwunderlich das Genre, so mächtig der Stoff: in seinem Roman „Vom Untergang“ geht es um Geschichte, um Politik und die Frage, ob es historische Analogien gibt und ob aus der Geschichte gelernt werden kann. Dass das Buch im März 2022 erschienen ist, gibt ihm eine unbegreiflich erscheinende Aktualität. Letztere soll jedoch nicht jene Leserinnen und Leser davon abhalten, die einfach einen etwas anspruchsvolleren Kriminalroman aufschlagen und mit etwas Nervenkitzel gut unterhalten werden wollen.

Die Geschichte spielt im fränkischen Fürth im Jahr 1922 und vieles von dem, was dort thematisiert wird, ist historisch verbürgt. Es geht dort, anhand eines lokalen Vorfalls, um das, was die Weimarer Republik in Atem gehalten hat und sie letztendlich hat sterben lassen: Um die Strategien von sozialdarwinistisch geprägten Figuren wie den berüchtigten Theoretiker Oswald Spengler, der mit seinem „Untergang des Abendlandes“ als Kassandra wie als Visionär galt, um die Industriellen wie Presseleute, die finanzierten und Meinung machten, es ging um ebenso finanzierte Geheimbünde, die selbst vor Mord nicht haltmachen, es geht um eine organisierte, aber gespaltene Arbeiterschaft und um deren Lebensbedingungen und Kämpfe.  Verwoben ist das alles in konkrete soziale Beziehungen, die daraus eine spannende Geschichte machen.

Auf drei verschiedenen Ebenen wird die Erzählung gestaltet. Auf der der fortschreitenden Handlung der Erzählung selbst, auf der Darstellung der Ereignisse in der Presse und auf der Folie von Spenglers „philosophischen“ Betrachtungen und seinen Korrespondenzen mit den Dunkelmännern der bereits in diesen Jahren geplanten Machtergreifung. Dennoch entwickelt sich eine spannungsgeladene Handlung, die weder stört, noch aufgesetzt erscheint. Insofern ist ein Stück Kriminalliteratur entstanden, das mit dieser engen Verwicklung in die zeitgenössische Politik eher im angelsächsischen ( z.B. Robert Harris) als im deutschen Raum zuhause ist. Und da das Konstrukt als gelungen angesehen werden muss, zählt dieses Buch zu den sehr positiven Überraschungen hinsichtlich der gegenwärtig in Deutschland produzierten Literatur.

Und diejenigen, die sich besonders auf die politische Folie freuen, werden aufgrund der Passagen, die aus Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ in einem bestimmten Handlungskontext zitiert werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Denn vieles von dem, was sich dort offenbart, vor allem in den Segmenten der gesellschaftlichen Meinungsbildung, kommt einem vor wie exakte Beschreibung der heutigen Realität. Das, wozu ein Spengler noch nationalistische Dunkelmänner benötigte, um die Realität so zu verarbeiten, damit sie in die Ideologie passte, hat sich hier und heute zu einer fertigen Zustandsbeschreibung entwickelt, ganz ohne Gewalt und Willkür, sondern durch einen schleichenden Prozess der Anteilsübernahmen, durch die Modifikation der journalistischen Techniken und durch die Art der existierenden Beschäftigungsverhältnisse. 

„Vom Untergang“ ist ein gelungenes Wortspiel mit Spenglers Buchtitel und dem Schicksal der Weimarer Republik. Was sich als Rettungsunternehmen gebärdete, hat den tatsächlichen Untergang rasant beschleunigt. Und dass es historische Analogien zuhauf gibt, sorgt für eine ganz besondere Brisanz! Mehr Spannung geht nicht, und es handelt sich ja ein Kriminalroman!

  • Herausgeber  :  Edition Nautilus GmbH; Originalveröffentlichung Edition (14. März 2022)
  • Sprache  :  Deutsch
  • Broschiert  :  248 Seiten
  • ISBN-10  :  3960542844
  • ISBN-13  :  978-3960542841
  • Abmessungen  :  20.4 x 2.3 x 12.2 cm