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Der Nazi & Der Friseur

Kennen Sie das? Manchmal breitet sich vor einem eine Szene aus, und aus welchen Gründen auch immer, fällt einem ein Zitat oder ein Titel ein, der wie eine Überschrift zu dem gerade Erlebten passt, aber mit dem Kontext, aus dem die Bezeichnung kommt, gar nichts oder nur wenig zu tun hat. Mir ging es gestern bei den Nachrichten über die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen so. Als ich das Bild sah, als der dortige AFD-Fraktionsvorsitzende dem neuen FDP-Ministerpräsidenten gratulierte, hatte ich den Titel im Kopf: Der. Nazi & Der Friseur. Einmal abgesehen, dass die Bezeichnung tatsächlich für beide Seiten zutreffend ist, handelt es sich aber um den Titel eines Romans von Edgar Hilsenrath, ein Schelmenstück erster Güte, das allen an dieser Stelle empfohlen sei, die etwas Lesekompetenz besitzen und mit historischen Kategorien changieren können.

Dass gestern ein Nazi im schönen Thüringen einen Friseur, der sich selbst mit sage und schreibe 74 Stimmen über die Hürde ins Parlament geschleppt hatte, zum Amt des Ministerpräsidenten verholfen hat, war aus Sicht des Regisseurs tatsächlich ein Schelmenstück. Dass die Liberalen bis in die Bundeszentrale dabei mitgespielt haben und sich die CDU der Nummer nicht verwehrt hat, beschreibt die Situation ohne Schnörkel: Der Wirtschaftsliberalismus rüstet zum letzten Gefecht. Diejenigen, die bei der Vision des Versilberns der verbliebenen sozialen Institutionen und bei der Lektüre des Börsenberichts erotischen Fantasien zum Opfer fallen, sind am Zug.

Lassen Sie sich nicht ablenken, durch das, was jetzt im Nachklang folgen wird! Da werden so genannte Altliberale öffentlich weinen und die Umstände beklagen und selbst aus der AFD sind ja immer wieder Stimmen zu hören, die für einen wie auch immer gearteten gemäßigten Flügel zu sprechen beanspruchen und sich von den Nazis im Zwiegespräch distanzieren. Ändern wird es nichts, denn die Allianz für einen Durchmarsch gegen die Reste des Sozialstaates und für eine nach außen gerichtete Militarisierung steht. Von Schäuble und Merz über Lindner bis hin zu den Freunden vom berüchtigten Flügel. 

Wer derartige Thesen als zu gewagt ansieht, sehe sich noch einmal die Geschichte der Machtergreifung der historischen Nazis in den Geschichtsbüchern an. Der auf das bürgerliche Dasein ausgerichtete Liberalismus wird sich in Luft auflösen und die letzten Träumer in der AFD werden durch die Analogie eines Rhöm-Putsches aus dem Fenster geworfen werden. Wem die Geschichte zu weit hinten liegt, sehe sich die Entwicklung der Türkei in den letzten fünf Jahren an. Dort wurde das Drehbuch der faschistischen Machtergreifung soeben aktualisiert. Es geht längst nicht mehr um Spekulationen besonders Besorgter, sondern es geht um eine Realität, der nur durch Realität begegnet werden kann.

Das, was bei bestimmten Anlässen als Zivilcourage immer wieder angemahnt wird, ist jetzt Pflicht.  Wenn der Nazi und der Friseur bei der Posse in Thüringen nicht die Augen geöffnet haben, dann ist es zu spät und Dante Alighieri kann getrost zitiert werden: Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren.

Oder aber es gelingt der Schulterschluss derer, die es ernst meinen mit den Grundrechten, mit Meinungs- und Koalitionsfreiheit, die es ernst meinen mit lebenswürdigen Existenzbedingungen und die sich keine Feindbilder, für die es sich zu sterben lohnte,, einreden lassen wollen. Zeigen wir bei jedem Atemzug die Zähne!

Die Permanenz der Diaspora

Edgar Hilsenrath. Berlin…Endstation

Der deutsche Jude Edgar Hilsenrath hat im Jahr 2006 einen weiteren Roman veröffentlicht, der das Thema seines Lebens in den Mittelpunkt stellt: Den Holocaust und das Elend des Exils. Mit dem Roman Berlin…Endstation greift Hilsenrath in das unerschöpfliche Erfahrungsreservoir des Exilierten, den es über Frankreich in die USA trieb und von wo er Jahrzehnte später nach Deutschland zurückging. Nicht ungewöhnlich, aber selten, nicht halsbrecherisch, aber couragiert. Die von Hilsenraths biographischer Substanz getränkte fiktive Figur Joseph Leschinsky, genannt Lesche, erfährt es kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Deutschland von einem jüdischen Kollegen im Emigrantencafé in der 86. Straße. In Deutschland, so bedeutet ihm dieser, brauchst du nach keinem Holocaust-Denkmal zu suchen, Deutschland ist ein einziges Holocaust-Denkmal, überall.

Lesche lässt sich nicht abhalten, er ist Schriftsteller, er braucht die deutsche Sprache, ihn treibt es über London und München nach Berlin, wo er sich niederlässt und sogar Fuß fasst. Romane, die die amerikanischen Verlage nicht drucken wollten, finden hier in kleinen Häusern ihre Resonanz, der findige, lebensbejahende Lesche, der dennoch seine Albträume und sein Trauma nie los wird, erwirbt sich in kurzer Zeit eine bescheidene Existenz. Als jüdischer Schriftsteller gewinnt er aber immer mehr das Gefühl, dass alle ihm zeigen wollen, nein, wir sind nicht so, wie du denkst, wir waren das nicht, oder wir haben aus der Geschichte gelernt. Lesche entdeckt das Thema des Holocaust gegen die Armenier im Jahr 1915 für sich, er recherchiert, inspiriert durch den berühmten Roman Franz Werfels, der schon vor dem industriellen Vernichtungszug gegen die deutschen Juden das Thema zu einer großen Metapher für die systematische Entwertung der Existenz und das Fanal einer Gegenwehr gegen deren Siegeszug machte.

Vor Lesches Haustür tauchen die ersten Nazi-Parolen gegen ihn auf, den jüdischen Schriftsteller, der sich nie wieder verstecken will. Lesche fliegt in die USA, nach San Francisco, um Material zu dem Armenierthema zu recherchieren, macht auf dem Rückweg einen Stopover in New York, wo er noch mal Gelegenheitsjobs wahrnimmt, um nicht zu vergessen, wie das war, besucht alte Freunde und kehrt nach Berlin zurück. Dort plant er den großen Armenierroman, arbeitet für eine Reportage über die Obdachlosen in Berlin, verliebt sich in eine junge Armenierin und macht den Eindruck, als gelänge ihm die Rückkehr. Doch kurz aufeinander folgende Schlaganfälle werfen ihn aus der Bahn und als er, rekonvaleszent, mit dem Rollstuhl durch sein Viertel fährt, lauern ihm Jungnazis auf und zertrümmern ihm mit einem Baseballschläger den Schädel.

Endstation Berlin liest sich wie die letzte Sequenz des Bewusstseins vor dem Tode, die die verhafteten biographischen Stationen noch einmal Revue passieren lassen. In der burschikosen Finesse, dem humordurchtränkten, unvernichtbaren Lebenswillen des Joseph Leschinsky und seines Weges durch die Romanhandlung zeigt sich die Irreversibilität des bereits Geschehenen. Die Vernichtung, die unsägliche, führt zu keinem Happy End. Auch wenn man sich bei der Lektüre immer wünscht, Lesche möge noch viele Bücher schreiben und auch verkaufen, seine Schelmenstücke fortsetzen und das Glück einer späten Liebe genießen. Das Urteil steht bereits in den längst veröffentlichten Annalen: Brutales Ende, kein Trost!