Schlagwort-Archive: Dr. Gerhard Mersmann

Diplomatie im Krieg der Systeme

Lion Feuchtwanger. Die Füchse im Weinberg

Gut Ding will Weile. Lion Feuchtwanger ging über Jahre mit dem Plan schwanger, einen historischen Roman über das vertrackte Verhältnis von Frankreich und den USA schreiben zu wollen. Während des II. Weltkrieges dann begann er damit. Die Titel variierten, mal sollte das letztendlich 1000 Seiten umfassende Werk „Waffen für Amerika“ heißen, dann wieder in Bezug auf das Bibelzitat Salomo „Die Füchse im Weinberg“ („Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge sind in der Blüte!“). Letztendlich war es eine Trilogie mit den Kapiteln „Waffen für Amerika“, „Die Allianz“ und „Der Preis“, womit die historische Kausalität eines einzigartigen Verhältnisses abgebildet war.

Die Figuren, die sich auf dem Erzähl-Tableau begegnen, sind der in Paris als Vertreter der im Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Krone befindlichen USA weilende Benjamin Franklin, Marie Antoinette, die Königin, sowie Ludwig der 16., ein Pierre de Beaumarchais, der die ersten Schiffslieferungen mit Waffen für die amerikanischen Rebellen organisierte und gleichzeitig Autor des Figaro war, junge Adlige wie ein Lafayette, der sich in den USA den Rebellen unter George Washington anschloss und mit dem Wissen eines solchen Krieges zurückkam, Vertreter der Aristokratie, ein Voltaire sowie Protagonisten des zeitgenössischen Theaters.

Und obwohl die Schilderung der handelnden Figuren in ihrer Anschaulichkeit wie Widersprüchlichkeit für sich schon faszinieren – ein Beaumarchais, der stets durch seine Eitelkeit geblendet ist, ein König, der das ganze Unheil der Allianz mit den amerikanischen Rebellen ahnt und dennoch aus Phlegma der Subversion eine Konzession nach der anderen macht, ein Franklin, der den Müßiggang und die Genüsse des Lebens liebt und mit seiner Fähigkeit, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, sich über allem erhebt, eine Königin, die gefallen will und sich verstrickt und all die jungen Idealisten, die teils auf der Strecke bleiben oder zum Heldentum aufsteigen -, es geht in diesem Epos um die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts. Als führte eine andere Macht Regie, die zwei ungleiche Ströme zusammenführt. Erst wurden Waffen geliefert, dann schloss man eine Allianz und zum Schluss zahlte die französische Monarchie mit ihrem Sturz den Preis.

Feuchtwanger war nicht nur ein versierter erzählerischer Komponist, er brachte vor allem in seinen historischen Romanen immer auch die Zeit durch die Beschreibung der profanen Lebensumstände grandios zum Vorschein. Von den Speisen über die Garderobe bis zum Beischlaf, dem Theaterpublikum und den Haustieren bekommt die Leserschaft ein Bild über den Zustand der Pariser Gesellschaft am Vorabend der Revolution. 

Das Erstaunliche ist nicht nur, dass die „Füchse im Weinberg“ Verweise auf die politischen Zustände während ihrer Entstehung aufwiesen, sondern auch den Eindruck erwecken, als hätte der Autor unsere aktuellen Verhältnisse im Kopf gehabt, als er auf die historische Folie schrieb. Genau das macht große Literatur aus. Sie entblättert ein Detail, das in den Archiven schlummern mag, aber sie injiziert auch etwas Universelles, das durch seinen Charakter nie an Aktualität verliert.

Die bis heute eigenartige systemische Verwandtschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich wird in diesem Roman sichtbar. Und wer sich dessen bewusst ist, kann bis zum heutigen Tag die jeweilige Politik besser erklären. Und dass die Freiheitsstatue im Hafen von New York City ein Geschenk aus Frankreich ist, dessen Formvorlage im Jardin du Luxembourg in Paris zu bewundern ist, erklärt sich von selbst. Die subversive Kraft der Kunst. Die Eitelkeit im Geschäft der Politik. Das Phlegma als Garant des Untergangs. Unheilvolle Allianzen. Benjamin Franklin in Paris, die hohe Kunst der Diplomatie im Krieg der Systeme. Geht es spannender? 

Diplomatie im Krieg der Systeme

Archaische Weisheiten und leuchtende Sterne

Wolf Wondraschek, Im Dickicht der Fäuste. Vom Boxen

Im Jahr 2021 wurde ein Buch noch einmal neu aufgelegt, das 2005 erschienen war und bereits zu diesem Zeitpunkt Texte enthielt, die in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden waren und sich mit den Höhen und Tiefen des Profiboxsports befassten. Es handelt sich um Wolf Wondrascheks „Im Dickicht der Fäuste. Vom Boxen.“ Angesichts eines bevorstehenden Boxkampfes, in dem wieder einmal nach einer neuen deutschen Hoffnung im Schwergewicht gesucht werden sollte und für den ich Karten bekommen hatte, nahm ich das Buch in die Hand und wollte mich ein wenig in die richtige Stimmung versetzen.

Und prompt war ich in der Welt der ganz Großen und Illustren, angefangen mit dem außerirdischen, bis heute über allem stehenden Muhammad Ali, The Greatest, über Max Schmeling,  Joe Frazier, The Locomotive, George Foreman, den Prinz von Homburg Norbert Grupe, Axel Schulz, Sir Henry Maske und die Klitschkos. Die Lektüre war eine Reise in die Vergangenheit, als der Boxsport rund um den Globus faszinierte, als er noch seine archaische Magie ausstrahlte und als dort Figuren unterwegs waren, die eine Aura hatten, die weit über den Ring hinausstrahlte.

Wondraschek, der sich immer zu dem Metier bekannte und der auch die Handschuhe anzog, trainierte und sich ab und zu die Lehren holte, was passiert, wenn man die falschen Entscheidungen trifft, Fehler macht oder unaufmerksam ist. Vieles, was in dem Metier, das weit in die Antike zurückreicht, zu erlernen ist, hat der Autor begriffen und unter diesem Licht seine Betrachtungen angestellt. Dass Muhammad Ali einer war, der von einem anderen Stern kam und bis zu seinem tragischen Ende leuchtete, muss man keinem erzählen, der das Boxen schätzt. Dass in dem Metier seit jeher auch geschoben wurde, dass dort die Kriminalität wucherte und das Schicksal derer, die im Ring oder in der Gosse aufschlagen, von keinem beweint wird, ist auch keine Enthüllung, die als Sensation zu werten ist.

Wondrascheks Texte holen den am Boxen interessierten und vom Boxen faszinierten Leser einfach in diese Welt zurück. Eine Welt, in der es Gesetze gibt, die immer wieder gebrochen werden und die immer wieder mit lapidaren Sätzen wie They´ll Never come back oder You ´ll Never know begleitet werden. Wer Schulungsmaterial für das Leben sucht, der ist in diesem Buch richtig, so absurd es für den Außenstehenden klingen mag. Jener legendäre Rumble in The Jungle war so ein Lehrstück, und The Thrilla in Manila auch. Das verstehen aber nur die Eingeweihten, die die Lehrsätze am eigenen Körper erfahren haben. Da entblättert sich Strategie, Technik, situative Schläue, Präzision und Kondition in Bruchteilen von Sekunden, während andere stumpf auf eine plumpe Schlägerei zu schauen glauben.

Das Dickicht der Fäuste ist ein Text für Afficionados, die schon immer begriffen haben, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist und dass die Existenz etwas zu Erkämpfendes ist. Für sie sind diese Texte eine Erfrischung des Herzens, immer noch. Und das woke Gemüse sollte die Finger davon lassen! Acht Unzen! Zwölf Runden! Da geht es um alles!  

Archaische Weisheiten und leuchtende Sterne

Viel Tiefe im Zeitalter der Oberfläche

Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon. Roman

Der Schweizer Philosoph Peter Bieri, (* 1944 Bern, + 2023 Berlin), verfasste unter dem Pseudonym Pascal Mercier insgesamt fünf literarische Werke, von denen der Roman „Nachtzug nach Lissabon“, der 2004 erschien, der erfolgreichste war. Die Geschichte handelt von einem Altphilologen, der quasi durch einen Zusammenprall auf seiner Alltagsroutine im schweizerischen Bern in eine skurrile Recherchereise verwickelt wird. Er bekommt ein Buch in die Hand, von einem längst verstorbenen portugiesischen Autor. Kurzerhand bucht der Philologe eine Reise mit dem Zug nach Lissabon und verfolgt dort die Spuren, die er nach und nach freizulegen in der Lage ist. Es ist kompliziert und der Kompass, dem er folgt, sind die in dem Buch zu findenden Gedanken der juvenilen, profund denkenden, allerdings längst verstorbenen Hauptfigur. Es handelt sich dabei um den Arzt Amadeu de Prado. 

Was folgt, ist eine spannende Geschichte über diesen Mann, den portugiesischen Widerstand gegen das Regime des Diktators Salazar, der schließlich 1974 erfolgreich durch die Nelkenrevolution gestürzt wurde, und die Unwägbarkeiten und Gefahren dieses Widerstandes. Aber auch immer wieder finden sich Textfetzen, die eine abendländische Bildung dokumentieren und Lebenssituationen, die nicht anders als Grundmuster von Tragik beschrieben werden können.

Denn was in diesem Roman auf den Tisch kommt, ist quasi als ein Kanon von Universalthemen zu beschreiben. Dabei geht es um nichts weniger als Freundschaft, Loyalität, Liebe, Dankbarkeit, Ratio, Logik, Verletzlichkeit, Schicksal und Duldung. Immer wieder werden Passagen dieser Schrift des Amadeu de Prado, die erst posthum von seiner Schwester veröffentlicht wurde, im Roman angeführt und sie verdeutlichen, in welchem Kontext der eigenen Entwicklung die großen Themen der menschlichen Existenz in einer Atmosphäre der Diktatur zur Betrachtung gelangen.

Reduzierte man den Roman auf seine Handlung, dann wäre es eine recht einfache Geschichte. Liest man ihn allerdings mit dem Echo der viel zitierten Schrift, dann wird daraus eine intensive Auseinandersetzung mit vielem von existenzieller Relevanz. Neben den bereits angeführten Themen kommen noch andere Fragen zur Geltung, wie zum Beispiel die, ob der hippokratische Eid auch dann gilt, wenn quasi der Leibhaftige um Hilfe bittet oder ob es geboten ist, des Widerstandes wegen Mitglieder aus den eigenen Reihen zu töten, oder ob Liebe und Barmherzigkeit den Stoff bilden, um eine große Lebensfreundschaft zu beenden. 

Merciers Roman ist keine leichte Kost. Er fordert Interesse an der konkreten Geschichte Portugals, er verlangt, dass man sich mit den Universalthemen auseinandersetzen will und er versetzt den Leser in einen Zustand der Distanz zu allem Profanen. 

Dass es sich bei dem mir vorliegenden Buch bereits um die 59. Auflage handelt, nährt die immer schwächer gewordene Hoffnung nun doch wieder, dass im Zeitalter des Seichten auch die Tiefe zuweilen gesucht wird. Die Lektüre hat mich so beeindruckt, dass ich mir den aus dem Jahr 2013 stammenden gleichnamigen Film mit Schauspielern wie Jeremy Irons, Martina Gedeck, Bruno Ganz, Jack Huston und Tom Courtenay angesehen habe. Ebenfalls mit großem Gewinn.    

Nachtzug nach Lissabon – viel Tiefe im Zeitalter der Oberfläche.

Viel Tiefe im Zeitalter der Oberfläche