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Hoffnung Brasilien

Die Sätze gleichen sich. Jedes Mal. Zu jedem sportlichen Großereignis internationalen Charakters, vor allem zu Olympiaden und Fußballweltmeisterschaften, starten die Medien ihre Kampagnen. Sie sollen der Bevölkerung die Länder näher bringen, in denen die Wettkämpfe ausgetragen werden. Eine ganze Armada von Journalisten, Produzenten und Analysten bereist diese fremden Orte, um mit Kommentaren, Dokumentationen, politischen Statements oder feuilletonistischer Episodik heimzukehren und uns alle irgendwie heimzusuchen. Denn, betrachtet man diese Feldzüge, mit Information hat das in der Regel wenig zu tun, mit Respekt gar nichts, mit einem imperialen Überlegenheitserguss sehr viel.

Mal werden Länder regelrecht geschreddert, wie China bei der Olympiade oder kürzlich Russland, oder sie werden total gehypt, wie damals Australien, das wohl rassistischste und weißeste Land der Welt, oder man erhebt sich, wenn die von der dortigen Bevölkerung ausgehende Sympathie erdrückend ist, über sie wie bei einem Zoobesuch. Insgesamt folgen diese Sottisen der post-journalistischen Periode dem Konzepte des ungleichen Vergleichs. Wir sind der Mittelpunkt der Welt und alles, was von unseren Standards, Gewohnheiten und Regeln abweicht, geht zivilisatorisch eigentlich gar nicht. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Freude an Vielfalt im Keime erstickt werden soll.

Brasilien ist ein aufregendes Land. Es hat eine abenteuerliche Geschichte, in der immer der Drang nach Zivilisation, nach Entdeckung und Ausprobieren mit der wilden Natur, dem Unbezwingbaren, dem Nicht-Normierbaren kollidierte. Das hat zu den Schmerzen geführt, die die Nationenbildung dieses eigenen Kontinents birgt. Und das hat alle, wirklich alle, die in diesem Land sozialisiert wurden, zu großen Patrioten gemacht. Das ist eine Emotion, die man wahr nehmen muss, wenn man über dieses Land berichtet, und die von den meisten nicht einmal bemerkt wird.

Der Sozialist und Gewerkschaftsführer Lula da Silva, der Tintenfisch, wie er liebevoll vom Volk genannt wurde, der selbst aus den Favelas stammte und es zum Präsidenten schaffte, war derjenige, der durch seine Politik Brasilien zu einem gigantischen Sprung ins 21. Jahrhundert verhalf. Er schuf Infrastruktur, Rechtssicherheit und berufliche Bildung. Die Produktivkraftentwicklung Brasiliens manifestiert sich in dem Kürzel der BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien und China. Der Reichtum, der in den letzten 20 Jahren in Brasilien angehäuft wurde, ist immens und bietet ungeheure Chancen. Und das, was momentan als Unruhen aus einem Land der Ungerechtigkeiten beschrieben wird, sind Verteilungskämpfe um den neuen Reichtum.

Die Underdogs wollen jetzt etwas abhaben von dem großen Kuchen, der nun auf dem Tisch steht und ohne Fortschritt gar nicht existieren würde. Zu Recht geht es jetzt um Teilhabe in Form guter Gehälter, guter Bildung, vernünftiger Wohnung und passender medizinischer Versorgung. Aber ein Land, das sich für einen von Wirkungsindikatoren gesteuerten Haushalt entschieden hat, wird diese Justierungen ins Auge fassen. Die Proteste erinnern die jetzige Regierung daran, dass es höchste Zeit ist, dieses zu tun. Diesen Kontext als eine Situation zu beschreiben, in der typischerweise eine Regierung es nicht hinbekommt, geht so ziemlich treffsicher am Sachverhalt vorbei. Es geht um soziale Gerechtigkeit in einem überaus dynamischen und, wenn der Terminus bemüht werden darf, fortschrittlichen Land. Da hilft die Selbstgerechtigkeit der Betrachtung von einem Plateau der Stagnation gar nichts. Sie ist eher beschämend. Es wäre angebracht, dem wahrscheinlich momentan dynamischsten Land der westlichen Hemisphäre mehr Sympathie entgegenzubringen. Brasilien und die dort lebenden Menschen sind eine große Hoffnung. Nicht nur für sich, auch und gerade für uns.

Das Leistungsprinzip und die Demokratie

Der ehemalige Trotzkist und Erfolgsjournalist Christopher Hitchens, der in London seine Karriere begann und dann über New York nach Washington wechselte, schreibt in seinen lesenswerten Memoiren, dass irgendwann Ende der siebziger Jahre etwas geschah, das ihn sehr beunruhigte und als unheilvolle Geschichte endete. Als politisch engagierter Mensch wohnte er vielen Versammlungen und Demonstrationen bei und irgendwann, so berichtet er, begannen die Sprecherinnen und Sprecher zu Beginn ihrer Diskussions- und Redebeiträge darauf hinzuweisen, welcher sozialen Klasse, welcher Ethnie und welcher Minorität sie angehörten. Sie machten das in einer Weise, so Hitchens, als sähen sie es als ein Verdienst per se an, dass dieses so sei. Christopher Hitchens, der natürlich aus einer protestantischen Familie stammte, konnte das nicht einfach so zur Kenntnis nehmen. Diese Tendenz, die Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrtausends begann, hat einen Verlauf genommen, der die Grundfesten der Leistungsethik außer Kraft setzen und das Revolutionär-Transitorische der Existenzphilosophie ad absurdum führen sollte.

Das, was Hitchens als ein erstes Symptom mit Entsetzen registrierte, ist heute Standard. Die Schriften und Handlungsmaximen der Integrationsindustrie gehen ebenso davon aus wie die Projekte zur Ausarbeitung einer Politik der Diversität. Unterschwellig, aber ohrenbetäubend, wird mit jedem Atemzug suggeriert, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer von einem Zustand beschriebenen Gruppe ein Verdienst an sich sei. Eine Beziehung zu erbrachten Leistungen wird nicht mehr hergestellt. Und da es so selbstverständlich wie gebräuchlich geworden ist, und da der psychotische Umgang mit der politischen Korrektheit nur ein Symptom dafür ist, dass auf dem Gebiet der Integration und Diversität außer einer verbalen Schreckensherrschaft wenig erreicht und geleistet wurde, sei hier die Unverfrorenheit erlaubt zu fragen: Ist es ein Verdienst, eine Frau zu sein? Ist es ein Verdienst, nicht in der Bundesrepublik Deutschland geboren zu sein? Ist es ein Verdienst, homosexuell zu sein? Ist es ein Verdienst, ungebildet zu sein? Ist es ein Verdienst, gehandicapt zu sein?

Einmal den Mut besessen und die Fragen tatsächlich offen und einfach formuliert, kommt man schnell zu dem Schluss, dass tatsächlich, wie von Hitchens vor über vier Jahrzehnten bereits gefürchtet, etwas furchtbar schief gelaufen ist. Es geht gar nicht um die Zielgruppen, sondern um die Ent-Demokratisierung der Denkweise. Die Bewertung eines Zustandes, einer Neigung oder einer selbst nicht beeinflussten Geschichte führt fast ausnahmslos zu einem moralischen Urteil. Und dieses moralische Urteil bestimmt darüber, ob man sich auf der Sonnenseite des politischen Diskurses befindet oder das Reich der Dunkelheit bevölkert! Im Wesen handelt es sich dabei um eine Reinkarnation der Despotie, denn das Urteil ist willkürlich und das, was vor einigen Jahrzehnten noch als normal galt, als die Charakterisierung der großen Masse, ist heute bereits ein Stigma. Und das, was damals als Stigma galt, ist heute eine Referenz von Gewicht.

Ob man es will oder nicht, die Aufhebung des Leistungsprinzips führt politisch zurück in die finsterste Epoche der Willkürherrschaft und öffnet der Inquisitorenlogik Tür und Tor. Menschen an ihren Taten zu messen, das Diktum der Demokratie schlechthin, wird sogar tabuisiert und die Bewertung nach Herkunft und Geschlecht wird wieder etabliert. Unter diesem Gesichtspunkt, der übrigens absolut ist, kann das Urteil über die gängigen Ideologien der Diversität nur vernichtend sein: Wir sind umgeben von schwarzer Nacht, und das Licht der Aufklärung ist in weiter Ferne.