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Wer wollen wir sein?

Seit mehr als vierzig Jahren stellt sich der gesellschaftliche Mainstream des Westens die Frage, woher das einzelne Individuum kommt und welche Implikationen es für die soziale und politische Form des Zusammenlebens mit sich bringt. Gebracht hat es Klarheit über die unzähligen Möglichkeiten individueller Autonomie. In Bezug auf die Notwendigkeiten einer gesellschaftlichen Konzeption war das Ergebnis nicht nur dürftig, sondern desaströs. Die Ursache für diese auseinander klaffende Entwicklung ist die Eigendynamik des Individualismus, so wie sie von einem zunehmend ungezügelten Kapitalismus geprägt wird. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und ja, Kosten wie Energie für das gesellschaftliche Zusammenleben werden erlebt als zu hoch und immer wieder lästig. Von denen, die den Honig saugen und Trümmer hinterlassen.

Das Trügerische an der Überbewertung des Individuums ist die Tatsache, dass es dem Kapitalismus noch immer gelungen ist, aus einem Trend ein Warensortiment zu machen, der zur Vermassung führt. Tatsächliche Individuen, die sich durch ihr Verhalten der Vermassung widersetzen, werden als störend, querulatorisch und nicht bei Sinnen kategorisiert. Und ehemals emanzipatorische Bewegungen landen als Accessoires in exquisiten Boutiquen. Für den Massenmarkt gibt es Massenware. Man betrachte nur die Idealformen für Männer wie Frauen. Wo, bitte schön, sind dort noch individuelle Züge zu finden, die von der Vermarktung abweichen. Die Bilder der so genannten Individuen mit ihren Freiheitsrechten sind beschämend. Es handelt sich um Ramschware. 

Und, was bei der vergeblichen Suche nach der optimalen Existenz des Individuums vergessen wurde, ist die Frage, was die Summe der vermeintlichen Individuen, sprich die Gesellschaft, sein soll oder sein will? Als tappten die vermarkteten Individuen im Nirvana herum, finden sich keine Schnittmengen, denen die idealisierten Einzelcharaktere zustimmen und sie verteidigen würden. Man sehe sich die gegenwärtige Politik an. Nichts, aber auch gar nichts lässt sich an dem, was Regierungshandeln anbetrifft, was einen Weg beschriebe, den die letzten Überreste an bürgerlichem Selbstbewusstsein noch zustimmen würde. Da jedoch keine eigenen Vorstellungen über die Gesellschaft bei der Individualisierungsorgie entwickelt wurden, ist es einem Konsortium von sich im Parlamentarismus festgesetzten Funktionären gelungen, Realitäten schaffen zu können, die eine bewusst in Demokratie verankerte Gesellschaft weit von sich weisen würde.

Den ganzen Unsinn zu beschreiben, würde die sonntägliche Laune völlig verhageln. Wenn man sich nur vorstellt, dass Großmachtphantasien, Militarismus, Kriegsideologie, Rassismus, Terrorismus, Diskriminierung, Feindbilder und nahezu flächendeckende Inkompetenz das Bild ausmachen, das das gegenwärtige Gemeinwesen abgibt, muss  nicht lange darüber sinniert werden, ob dieses Bild dem entspricht, wohin sich die Summe der Individuen hat hin entwickeln wollen.  

Insofern ist es überfällig, in jeder Diskussion, die sich über die Herkunft und Identität von einzelnen Individuen ergießt und welche Konsequenzen dieses für die jeweilige Erscheinung in Bezug auf ihre Sonderrechte ergibt, mit der Frage zu konfrontieren, welche Form der Gesellschaft das Ziel sein muss. Der Individualismus, wie er in der politischen Praxis des Kapitalismus generiert wurde, hat ins politische Desaster geführt.  Die Zeit des Kollektivs ist angebrochen. Und nach so vielen Jahren der individualistischen Libertinage ist es höchste Zeit, sich auf Dinge wie den kategorischen Imperativ, einen Gesellschaftsvertrag und eine drastische Belebung direkter Demokratie zu besinnen. Es bedarf keines besseren Belegs für diese These, als den Konsum der Tagesnachrichten. Wer wollen wir als Gesellschaft sein? Das ist jetzt die Frage! 

Wer wollen wir sein?

Scharlatane im Vollzug, Demagogen auf Sendung

Die Diffusion der Begrifflichkeiten zwingt dazu, weiter auszuholen und auf die theoretischen Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zurück zu greifen. Im Gegensatz zur direkten oder Rätedemokratie gehört es zum Wesen der parlamentarischen, dass in freien, gleichen und geheimen Wahlen das Volk bestimmte Kandidatinnen und Kandidaten mit einem Mandat ausstattet. Dieses Mandat berechtigt dazu, die wählenden Bürger formal und nach Auftragsinhalt zu vertreten. Zwar sieht die deutsche Version des Parlamentarismus noch so etwas vor wie das Gewissen, gespeist aus den despotischen Imperativen des Dritten Reiches, aber die Delegation des Volkswillens gilt dennoch.

Nun, in der Ära des Post-Heroismus und der Glorifizierung des individuellen Glücks, unterliegt dieser Demokratiebegriff einer Revision. Der wortführende Mainstream manifestiert sich in erster Linie in den öffentlich-rechtlichen Medien, deren Finanzierung über ein Staatsmonopol garantiert ist. Ausgerechnet die Verfassung des Staates, der ihre Existenz sichert, wird von ihnen dahingehend konterkariert, dass sie Sinn und Legitimation der politischen Delegation infrage stellen. Da die politischen Mandatsträger in den letzten Jahrzehnten zunehmend durch die Bezweiflung ihrer Legitimität und Kompetenz verunsichert wurden, geben sie tendenziell dem Wunsch nach demokratischer Erosion nach. Diese verläuft nicht direkt, d.h. das formale System der Demokratie wird nicht kritisiert, sondern die Ausführung der politischen Entscheidungen. Diese Taktik ist subversiver als offene Sabotage und Bomben.

Zu einem politischen Mandat zählt nicht nur das Recht auf eine Entscheidung, was politisch umgesetzt werden soll, sondern auch auf das Wie. Die Bewertung der Qualität der Wahrnehmung des politischen Mandats bezieht sich auf beides und wird in den nächsten Wahlen vorgenommen. Durch die zunehmende Beeinflussung der Ausführung, d.h. des operativen Geschäftes der Regierungsführung ist der Dilettantismus zu einem festen Bestandteil des politischen Systems avanciert.

Das, was als Basisdemokratie vom Tenor der opportunistischen Weltanschauung gepriesen wird, führt zum einen zu einer Explosion des bürokratischen Apparates, d.h. unzählige und aufgeblähte Gremien der Partizipation schießen wie die Atompilze aus dem Boden, sie repräsentieren vor allem die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und zeichnen sich dadurch aus, dass im besten Falle der Minimalkonsens zum Tragen kommt, was in der Regel Dekonturierung und Mediokrität zur Folge hat. Zum anderen revidieren sie den durch Wahlen manifestierten Willen von Mehrheiten, indem Nischenaspekte in der Realisierung in den Mittelpunkt geraten. Neben dem Verlust an Kontur leidet das ganze Verfahren noch an einer chronischen Verzögerung. Der Todesstoß für die parlamentarische Demokratie liegt in der Demokratisierung der Detailausführung.

Wer dem durch eigene Beobachtung nicht zustimmen kann, der sehe sich noch einmal die vom Oberdemagogen Geisler inszenierten Livestream-Befragungen und – Debatten anlässlich des Projektes Stuttgart 21 an, auf der Rentner und Hausfrauen aus der schwäbischen Provinz mit Ingenieuren über die Beschaffenheit und Kopfgrösse von Mineralbohrern stritten oder man vergegenwärtige sich einige der Brutalo-Brainwash-Happenings während des letzten Bundestagswahlkampfes im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, als Menschen ohne Ausbildung und Beruf in der Lage waren, Vertretern der deutschen Energiewirtschaft zu erklären, dass die bestehenden Stromnetze durch Atomstrom verseucht seien. Das klingt zwar als Reminiszenz ganz amüsant und dokumentiert die Chuzpe derer, die in diesem Lande Meinung machen, ist aber mehr als eine nur kulturell zu verortende Krise, sondern bereits ein sicheres Indiz für die rasende Auflösung des bestehenden politischen Systems respektive für das Einstürzen seiner letzten Residuen. Wir brauchen keine Scharlatane im Vollzug und keine Demagogen, die das als Demokratie verkaufen. Vielmehr sollten wir darüber räsonieren, was mit den ca. acht Milliarden Euro Notwendiges gestaltet werden könnte, die gegenwärtig für die ideologischen Quacksalbereien der öffentlich-rechtlichen Medien jährlich verbrannt werden.

Die zentrifugalen Kräfte Europas

Wenn es eine politische Programmatik gibt, mit der die Europäische Union nun seit Jahrzehnten auf den Markt geht, dann ist es die der Integration. Um zu verstehen, was sich dahinter verbirgt, hilft ein kurzer Blick in die Historie. Das, was wir heute als die EU ansehen, von den Azoren bis zur russischen Grenze und von Skandinavien bis an die Küsten Afrikas, begann als eine Wirtschafts- und Zollunion von Belgien, den Niederlanden und Luxembourg als BENELUX und wurde später zu der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG. Das genuine Ziel der EU war Handelsvereinfachung zu gegenseitigem wirtschaftlichen Vorteil. Immer wieder genährt durch die Wunden des II. Weltkriegs waren es vor allem die Spitzenpolitiker Frankreichs und Deutschlands, die mehr aus dieser Wirtschaftsunion machen wollten, nämlich ein politisches, friedenssicherndes Bündnis in dem die Demokratie zuhause ist.

Betrachten wird den Koloss EU in seinem gegenwärtigen Zustand, dann hat die Retrospektive etwas regelrecht Putziges an sich. Wir stehen nicht nur einer enormen Ausdehnung gegenüber, sondern auch einer ungeheuren wirtschaftlichen Disparität und einer politischen Asynchronität, die in der Geschichte von nicht-militärischen Bündnissen wohl einzigartig ist. Dazu kommt eine Brüsseler Bürokratie, die den Monolithen mit dem Jonglieren von gigantischen Transferleistungen in Schach zu halten sucht. Die im 2008 aufgepoppte Weltfinanzkrise hat dazu geführt, dass die unterschiedliche Machtverteilung das Szenario einer Vereinigung zu gegenseitigem Vorteil hat zum Bersten bringen lassen. Der wachsende Zentralismus der EU hat eine spirituelle Enge in den verschiedenen Ländern der Union erzeugt, die zunehmend mit separatistischen Bewegungen beantwortet wird.

Natürlich gab es historisch auch ohne EU Separatismus in Europa, aber die Häufung sollte doch nach Jahrzehnten der Re-Education unter dem Slogan Europäische Integration Anlass zum Nachdenken geben. Gerade in diesen Tagen stehen gar Referenden an, wie in Schottland, wo es um die Abtrennung von Großbritannien geht, nicht von der EU. In Venedig hat sich eine Initiative gebildet, die bereits an die Mehrheitsmarke schwappt und die Abtrennung von Italien zum Ziel hat. Ähnliches geschieht seit Jahrzehnten in Katalonien, da geht es um die Trennung von Spanien und ist wie in Venedig eine Variante des Wohlstandsseparatismus. Dass dort ausgerechnet Pep Guardiola zu den Galionsfiguren gehört, ist sehr folgerichtig, denn mit diesem Programm der ethischen Verwahrlosung passt er gut nach Bayern. Und dass so mir nicht dir nichts Hunderttausende in Bilbao für die Verlegung von ETA-Gefangenen von Spanien ins Baskenland demonstrieren, sollte auch in gewisser Weise zu denken geben.

Das Interessante an dem Modell Demokratie im Kontext der EU ist die Tatsache, dass wir trotz einer ansteigenden Virulenz der Zentrifugalkräfte im europäischen Kernland aus den öffentlich-rechtlichen Medien kaum etwas erfahren. Während jeden Abend in den Nachrichtensendungen die Mülltonnen auf der Krim von innen und außen ausgeleuchtet werden, erfahren wir nichts aus Venedig, Mailand, Barcelona oder Bilbao. Da liegt nichts näher als die alte Weisheit aus den Arsenalen der Macht, dass es bei inneren Konflikten ratsam ist, einen Feind von außen aufzubauen, an dem man sich emotional abarbeiten kann und der die zerstrittene Familie zumindest wieder für einen Augenblick vereint. Ob letzteres gelingt, ist mehr als fraglich. Und die Probleme, die strukturell im Wesen der Union begründet liegen, wird das russische Feindbild schon gar nicht lösen. Da wären eher Felder wie direkte Demokratie oder Autonomie im aufgeklärten Sinne anzusteuern. Das liegt den Kriegsrittern des aktuellen Molochs allerdings fern.