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Türkei: Kühler Kopf statt moralische Entrüstung

Es bedarf keiner Verschwörungstheorien, um das Ausmaß dessen, was in der Türkei passiert ist, an Dramatik noch überbieten zu wollen. Es ist schlimm genug. Die Türkei war bereits auf dem Weg in eine Diktatur, jetzt ist sie eine. Der Putsch nach dem Putsch hat gesessen, die Listen kamen aus den berüchtigten Schubladen, als hätten sie dort schon lange gelegen. Allein dreitausend Richter standen darauf, 10 Staatsratsmitglieder etc.. Es hilft jedoch nicht weiter, sich auf der phänomenologischen Ebene abzuarbeiten und die berechtigte Empörung an Einzelheiten festzumachen. Die internationale, geo- und weltpolitische Dimension der Ereignisse ist gravierend.

Die Türkei, seit 1952 Mitglied der NATO, hat immer eine entscheidende Rolle eingenommen. Selbst ein vom Islam geprägtes Land, befand sie sich lange auf der Schwelle zu einer verfassungsmäßigen Demokratie. Die Schwächen wurden seitens der USA und der anderen NATO-Mitglieder immer in Kauf genommen, weil die Türkei ein wichtiger Brückenkopf zum Nahen Osten war. In der jetzigen Situation, mit dem Bürgerkrieg in Syrien, der längst ein heißer internationaler Konflikt ist, mit dem dortigen IS und mit den Flüchtenden von dort in die Türkei und weiter nach Europa hat sich diese Bedeutung nicht verringert.

Die NATO wiederum hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten auf Betreiben der USA nach Osten erweitert, um eine Nord-Süd-Linie gegen Russland bilden zu können. Vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer ist das bis auf die Ukraine und Georgien gelungen. Der Preis für diese Strategie waren Mitglieder, die im Sinne demokratischer Werte dort ebensowenig etwas verloren hatten, wie die heutige Türkei. Aber es geht nicht um Werte, sondern um Interessen. Weder EU noch NATO sind Wertegemeinschaften, sondern Zweckbündnisse.

Jedes Mitglied von Zweckbündnissen muss für sich selbst entscheiden, ob der Zweck die Mittel heiligt, wie es so unappetitlich heißt, oder ob die Mitgliedschaft anderer Staaten es vielleicht nicht klug erscheinen lässt, sich in einem solchen Bündnis zu engagieren. Eine solche Situation ist mit dem Eintritt der Türkei in das Stadium der Unberechenbarkeit vollzogen. Der Abschuss eines russischen Flugzeuges an der türkischen Grenze hat gezeigt, wie schnell aus einem politischen Amoklauf der Bündnisfall werden kann. Neben dem Desaster, mit dem die türkischen Demokraten in ihrem eigenen Land konfrontiert sind, ist das ein heißes, extrem gefährliches Kriegsrisiko, welches sich hinter der diktatorischen Orgie eines Erdogan verbirgt, das alle NATO-Länder betrifft.

Auch wenn die USA aufgrund ihrer weltpolitischen Interessen immer und vor allem seit der Kubakrise sich vor die Türkei gestellt haben, um das Land gegen Kritik aus dem NATO-Lager in Schutz zu nehmen, so dürften sie jetzt in hohem Maße über die aktuelle Entwicklung beunruhigt sein. Angesichts der kalten Rigorosität, mit der das Imperium stets seine Interessen zu verteidigen bereit ist, spielt Erdogan trotz seiner inländischen Erfolge mit dem tödlichen Feuer. Sollte er sich komplett dem Einfluss des Imperiums entziehen, kann die Prognose als durchaus stabil gelten, dass er nicht im Bett stirbt.

Was allerdings nicht passieren darf, ist eine Fortsetzung der Appeasementpolitik, die sich dem Despoten ausliefert, weil er glaubt, mit den Flüchtigen aus Syrien, Afghanistan etc., die an der türkischen Grenze ankommen, einen Trumpf in der Hand zu haben. Sich den Nötigungen des Diktators zu ergeben bedeutet eine mentale Destabilisierung aller Demokraten. Diese Politik, die keine ist, muss der Vergangenheit angehören. Und es wäre schön, wenn die Medien, die jetzt wieder und wieder versuchen, die Analyse der Ereignisse durch ihre Verschwörungsnebelkerzen zu verhindern, diese Springer- und Mohngazetten und leider auch die Politmoderationspüppchen in den Öffentlich-Rechtlichen, wenn dieser Unsinn immer weniger zur Kenntnis genommen würde.

Erdogan, der lupenreine Demokrat

In der letzten Nacht haben Teile der türkischen Armee versucht, den Ministerpräsidenten Erdogan und die AKP-Regierung zu stürzen. Was anfänglich als wohl durchdachte Aktion aussah, ist anscheinend an der Mobilisierung der Massen durch Erdogan gescheitert, obwohl endgültig noch keine Aussage gemacht werden kann. Der Herrscher hat bereits angekündigt, was mit denen geschehen wird, die sich an der Aktion beteiligt haben. Mehr noch, es ist zu erwarten, dass nach der Gleichschaltung der Medien und der Justiz nun die der Armee, der Bastion eines weltlichen Laizismus schlechthin, folgen wird. Dadurch, dass der Putschversuch der einstigen befreundeten Gülen-Bewegung zugeschrieben wird, bietet sich ein historischer Vergleich an.

Dass, nach den Säuberungen in den Medienanstalten und in der Justiz der islamistisch-autokratische Herrscher Erdogan sich auch das Militär vornehmen würde, respektive dass er bereits damit begonnen hatte, in dem er einzelne Generäle auszutauschen begann, war allen klar. Und dass sich daraus vielleicht auch der Versuch eines Staatsstreiches ableiten ließe, ebenfalls. Denn die Umwandlung einer Armee, die auf den laizistischen Grundsätzen Kemal Atatürks aufgebaut war in ein Werkzeug eines vom Islamismus berauschten Autokraten könnte nicht friedlich vonstatten gehen. Die Informationen, die bisher verfügbar sind, belegen diese These. Bei den Aufständischen handelt es sich nicht um die Generalität, sondern in erster Linie um den mittleren Offizierskörper, der mit angesehen hatte, wie ein General nach dem anderen entlassen und durch Erdogan-Getreue ersetzt wurde. Sie sahen den Zeitpunkt für gekommen, dem ein Ende zu setzen und die Türkei vor dem endgültigen Abrutschen in die Diktatur zu bewahren.

Als in der Nacht von den Ereignissen vor allem in Istanbul und Ankara berichtet wurde, ließen die internationalen Reaktionen naturgemäß nicht lange auf sich warten. Interessant war der Konsens der Einschätzung aus dem kompletten NATO-Lager. Sowohl der amerikanische Präsident und die Kandidatin Clinton, als auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg und Kanzlerin Angela Merkel sprachen von der Hoffnung, dass sich die demokratisch gewählte Regierung in der Türkei durchsetzen werde. Da ist noch einmal etwas zu rekapitulieren:

Nachdem Präsident Erdogan und die AKP bei den letzten Wahlen die absolute Mehrheit verloren hatten, vor allem durch das gute Abschneiden der gemäßigten kurdischen Partei HDP, wurde diese zunehmend kriminalisiert und ein regelrechter Krieg gegen sie geführt. Die Regierungsaktionen gingen und gehen bis hin zur Bombardierung von kurdischen Städten innerhalb der Türkei. Bei den folgenden Wahlen würde dann die Mehrheit zurückgeholt, was zur direkten Folge hatte, die Immunität der kurdischen Abgeordneten aufzuheben und sie endgültig aus der Politik zu eliminieren. Während all das geschah, saßen renommierte Journalisten wie respektierte Richter und Staatsanwälte bereits in den Gefängnissen und warteten auf drakonische Strafen.

Die Gleichschaltung von Justiz, Medien und Militär scheint das Recht einer gebeugt demokratischen gewählten Regierung zu sein, zumindest nach der Meinung der eingangs zitierten Politikvertreter aus Reihen der NATO. Sicher ist, dass Erdogan, sollte er die Oberhand in diesem Machtkampf behalten, weiter daran arbeiten wird, aus der Türkei ein diktatorisches Monstrum zu machen. Der Verweis auf die Gülen-Bewegung stößt die Nase direkt auf die historische Analogie zum Röhm-Putsch. Auch da entledigte sich der Nazi Hitler der immer noch gutgläubigen Sozialisten in den eigenen Reihen. Es sieht so aus, als folgte Erdogan exakt dem Regiebuch der Machtergreifung der deutschen Faschisten. Und die NATO ist voll auf Appeasement und bescheinigt dem Diktator auch noch demokratische Legitimation. Machen wir einfach nur unsere eigene Regierung für das verantwortlich, was sie in dieser Gemengelage tut: Sie ist nicht mehr tragbar!

Das größte Projekt gegen Diktatur und Menschenhass

Neulich beschwerte sich jemand bei einem Freund über die Ereignislosigkeit in seinem Leben. Ihm ginge die Monotonie, so wie er das Ablaufen seiner Routinen erlebte, als eine kaum zu ertragende Langeweile auf die Nerven. Es werde Zeit, so der sich Beschwerende, dass etwas passiere, sonst drehe er noch komplett durch. Der besagte Freund, dem er sein überdrüssiges Herz ausschüttete, hörte sich alles mit einem milden Lächeln an. Eigentlich, so der Freund, sähe er das auch so. Alles ginge seinen Gang, alles liefe so wie immer, aber er genieße das wie ein rares Gut. Wie das?, so antwortete der Klageführer, wir haben doch eigentlich ein ähnliches Temperament, wieso leidest du nicht und freust dich sogar an der Ereignislosigkeit? Ja, antwortete da der Freund, für mich ist der geregelte Ablauf der Routinen ein Ausdruck tiefen Friedens. Das ist für mich ein hohes Gut und daher erlebe ich es als ein großes Glück.

Was klingt wie ein Bruchstück aus Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner war eine tatsächliche Unterhaltung vor wenigen Tagen. Es ist keine Überraschung, wenn deutlich wird, dass der eine, sich über die Langeweile Beklagende ein gebürtiger Deutscher war und der andere aus Serbien stammte. So verschieden kann die Sicht der Dinge sein. Was die einen als Ödnis betrachten, sehen die anderen als Segen und was die einen als willkommene Action begrüßen, fürchten die anderen als Bedrohung.

Die besondere Herausforderung, der sich die Menschen zunehmend stellen müssen, besteht vor allem darin, dass wir es zunehmend mit einem Phänomen der Gleichzeitigkeit zu tun haben. Durch die enger aneinander rückende Welt sind die Zustände von Frieden und Krieg, von Stabilität und Unruhe, von Reichtum und Armut, von Ordnung und Chaos und von Erklärungsnot und Sinn zu ganz selbstverständlich nebeneinander existierenden Nachbarn geworden.

Die Koexistenz sich scheinbar widersprechender Zustände anzuerkennen wäre schon ein erster Schritt, um damit zurechtzukommen. Was allerdings gegenwärtig beobachtet werden muss, ist der massenhafte Versuch, die Illusion des existenziellen Purismus aufrecht zu halten. Entweder Krieg oder Frieden, entweder Ordnung oder Chaos, entweder Stabilität oder Unruhe, das sind die Muster, die in der Lage sind, immer mehr Menschen zu mobilisieren und je nach individueller Perzeption in großem Stile zu spalten.

Anzuerkennen, dass sich alles in einem vagen Zustand befindet, bedeutet, sich mit der Perspektive auseinandersetzen zu müssen, dass vieles passieren kann und das in alle Richtungen. Es setzt voraus, sich darauf eingestellt zu haben, ohne vorher feststehendes Regiebuch existieren zu müssen und sich eine eigene Ordnung herzustellen, die die existenzielle Grundversorgung ermöglicht. Das ist nicht nur anstrengend, sondern es erfordert auch ein gewisses Instrumentarium, ohne dass eine Orientierung in unbestimmten, weil durchwachsenen Zeiten nicht möglich ist.

Das, was in den Wissenschaften so gerne als Ambiguitätstoleranz, als Akzeptanz verschiedener, nebeneinander existierender Unwägbarkeiten beschrieben wird, lässt sich nicht erwerben wie eine Lizenz. Zwei Dinge sind unabdingbar, die das Ergebnis einer gelungenen Sozialisation sind: Selbstvertrauen und eine eigene Vorstellung von Ordnung. Liegt beides vor, so kann an einem Plan gearbeitet werden, um letztendlich das zu erwerben, was vielleicht am treffendsten als innerer Kompass bezeichnet werden kann. Eine innere Orientierung in stürmischen Zeiten, flankiert von Selbstachtung und Werten, gestützt von vernünftiger Disziplin. Die Vermittlung all dessen, ein gewaltiges Projekt, ist das größte seiner Art im Kampf gegen jede Art von Diktatur und Menschenhass.