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Ein Geschichtsbuch, das sich wunderbar lesen lässt!
Annie Ernaux. Die Jahre
Sie sind näher, als man denkt, und dennoch oft so fern. Dieses Gefühl beschlich mich, als ich das von der mit dem Nobelpreis für Literatur geehrten Französin Annie Ernaux las. Wäre man schlampig und hätte es eilig, dann könnte man von einer Autobiographie sprechen. Ist es aber nicht. „Die Jahre“, zuerst erschienen 2008, ist der Versuch, die eigene Existenz mit der das Leben begleitenden Zeitgeschichte in einen Zusammenhang zu bringen. Annie Ernaux gelingt dieses in extravaganter Weise. Das einzige Hilfsmittel, das sie benötigt, um ein Sittengemälde der jeweiligen Phase ihres Lebens herzustellen, sind Bildbeschreibungen. Von ihr als Kind, als jungem Mädchen, als Frau, als Mutter, als alternder Frau. Ohne Romantik, ohne Nostalgie und ohne Ressentiment beginnt sie die Beschreibung der jeweiligen Lebensphasen mit einer knappen Erläuterung der im Bild festgehaltenen Atmosphäre. Als Betrachterin von außen. Neutral.
Und in der Neutralität liegt die Stärke dieses Buches. Obwohl Arnaux´ wie unser aller Leben nicht ohne kleine wie große Turbulenzen vonstatten ging, enthält sie sich der Bewertung. Natürlich hatte der Algerienkrieg großen Einfluss auf die damals jungen Franzosen, selbstverständlich war der Pariser Mai 1968 eine Zäsur, ohne Frage schlug Vietnam mächtig ins soziale Kontor. Und die Präsidenten des Nachkriegsfrankreich kommentieren das jeweilige Leben: ein Charles De Gaulle, ein Mitterand, ein Giscard D ´ Estaing, ein Chirac. Und der keine Voltaire namens Sartre fehlt genauso wenig wie die neben ihm große Simone de Beauvoir. Ereignisse und Personen, die längst in den Geschichtsbüchern stehen, kontrastieren und spiegeln die Lebensverhältnisse der Erzählenden. Die Rolle als Frau, als Mutter, als Partnerin, als Lehrerin. Die Leserschaft bekommt einen Eindruck, wie die großen politischen Ereignisse in das kleine private Leben scheinen und wie sie sich auswirken auf die sozialen Beziehungen, die Freundschaften und selbst das Konsumverhalten. Das Oeuvre der Madame Ernaux ist komplex und grandios, ohne dass es den interessierten Leser überfordern würde.
Der quasi nicht intendierte Nachschlag für mich als deutschem Leser bestand darin, dass mir noch einmal bewusst wurde, wie viele Analogien es im gesellschaftlich-kulturellen Leben dieser Epoche zwischen Frankreich und Deutschland gegeben hat. Und es machte auch deutlich, wo die Differenzen liegen, ohne dass diese zu Unverständnis führen würden. Das Gefühl der Gemeinsamkeit überwiegt, was als politisches Pfund nicht zu unterschätzen ist und deutlich macht, wie töricht es ist, nicht auf die Welt, und die beginnt nun einmal in der direkten Nachbarschaft, zu achten und ihr etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sich nicht mit einer permanenten Nabelschau zu verlustieren.
Kurz und gut: „Die Jahre“ von Annie Ernaux war für mich eine Entdeckung. Ein wunderbares Resümee der eigenen Geschichte, ein scharfer Blick auf französische Eigenheiten und ein tiefes Bekenntnis zu Humanität und Gerechtigkeit. Ganz zurückgenommen, eher lakonisch, ohne lautes Geschrei und ohne den Versuch, mit grotesken Einlagen die Aufmerksamkeit zu erregen. Das sind spannende Jahre. Das ist ein Geschichtsbuch, welches sich wunderbar lesen lässt.


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