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Das Bündel, das der Krieg für die Jugend schnürt

Ralf Rothmann. Der Gott jenes Sommers. Roman

Weit vorausschauend hat sich einer der exzellenten zeitgenössischen Erzähler deutscher Sprache einem Thema gewidmet, das zur Zeit der Erzählung seiner drei Romane eher wie eine wehmütige Retrospektive ohne zeitgenössische Relevanz anmutete. Die Rede ist von Ralf Rothmann, der mit den Romanen „Im Frühling sterben“ (2016), „Der Gott jenes Sommers“ (2018) und „Die Nacht unterm Schnee“ (2023) gleich drei Erzählungen über den letzten großen Krieg präsentiert hat, die es in sich haben. Nicht nur, weil der Krieg im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr gegenwärtig war, sondern auch, weil er in allen drei Werken die Perspektive der damals sehr jungen Menschen wählte. War es in „Im Frühling sterben“ die nicht einmal erwachsener junger Männer, so ist es bei „Der Gott jenes Sommers“ die eines jungen Mädchens. 

Ort des Geschehens ist ein Landgut an der Kieler Bucht zu Ende des Krieges. Noch wird gekämpft, Kiel ist zu großen Teilen zerstört, auf dem Landgut spürt man den Krieg, durch vereinzelte Bombenangriffe, durch Notverordnungen, durch Rekrutierungen, durch die Regentschaft von SS und Wehrmacht. Ralf Rothmanns große Stärke ist immer, dass er ohne abgegriffene Klischees auskommt. Er entblättert die Charaktere wie beim Häuten einer Zwiebel. Nichts ist eindeutig, obwohl das Wesen deutlich zu Tage kommt.

Es steht außer Frage, dass die Notwendigkeiten des Krieges die Regie führen, aber auch, das der wunderbaren Perspektive geschuldet, die Triebe und Wünsche eines 12, 13jährigen Mädchens und ihrer älteren Schwester, die mit allen Mitteln das Leben sucht und sich vieles nimmt, dadurch aber auch in Todesgefahr gerät. Das Mädchen wiederum sieht alles und begreift vieles, bis es auch zum Opfer der Tagesmacht wird, sich dadurch aber nicht brechen lässt. Die Empfindlichkeit, die ihrer Entwicklungsstufe entspricht, wird umgeben durch ein Feuer der Stärke, das aus den konkreten Erlebnissen resultiert. Sie sieht alles, sie weiß alles, sie überlebt alles und als der Krieg zu Ende geht, hat sie bereits alles erlebt, was das Leben an extremen Tiefen zu bieten hat. Die Schwester verschwindet, der Vater erhängt sich und die Mutter deliriert vor sich hin. Das Bündel, das die junge Protagonistin trägt, ist ihr Gepäck für die Zukunft.

Mit „Der Gott jenes Sommers“ ist, nach „Im Frühling sterben“ Rothmann wieder ein Roman gelungen, der sich als Pflichtlektüre für junge Menschen empfiehlt, die in einer Zeit vorherrschender militaristischer Eskalationslogik aufwachsen, ohne dass ihnen von denen, die dieses Geschäft betreiben, die zu erwartenden Erlebnisse und Konsequenzen eines Krieges aufgezeigt würden. Rothmann liefert dazu gewaltige sinnliche Portionen. Ohne Moralismus, ohne Zeigefinger, aber mit der Attitüde, die nur eine vorhandene Menschenbildung vermitteln kann. Und allen anderen, die längst in gesetztem Alter sind, wird zudem noch die Erkenntnis zuteil, dass die Zukunft nach einem Krieg von denen bestimmt werden wird, die blutjung in Trümmern und zerrütteten Verhältnissen stehen und nach einer Perspektive Ausschau halten, die nichts mit dem zu tun hat, wie es vor dem Krieg war.