Die Möglichkeiten, sich emotional zu überhitzen, sind in eine Dimension vorgedrungen, die alles, was man sich vor einigen Jahren vorstellen konnte, bei weitem übertrifft. Was auffällt, ist die Tatsache, dass vieles davon beliebig ist und mit keinem Bezug auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse steht. Man könnte ein kleines Spiel veranstalten, und die Dynamik, die bei den gegenwärtigen Eruptionen zutage tritt, auf andere Ereignisse übertragen. Was wäre, wenn das, was jetzt auf die Aktion der 53 bundesrepublikanischen Schauspieler veranstaltet wird, aufgrund des Gutachten der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019, in dem vorgeschlagen wurde, die Hälfte der Krankenhäuser des Landes zu schließen, und das, so ganz nebenbei, von einigen sich in der Corona-Krise profilierenden Politikern als durchaus vernünftig eingestuft wurde, empört in Erinnerung gerufen würde? Käme dann auch das Argument, es hätte sich um eine Verhöhnung der jetzigen Corona-Toten gehandelt? Oder, ein anderes Beispiel, wenn, aufgrund des unendlichen Leids, das der Krieg im Jemen anrichtet, es dazu führen würde, angesichts der ununterbrochenen Waffenlieferungen aus Deutschland von einer Verhöhnung der dort verreckenden Kinder gesprochen würde?
Die Liste ließe sich fortsetzen, und es ließen sich Beispiele anführen, die noch weitaus drastischer sind als die zwei hier genannten. Fakt ist, dass sich in dieser Hinsicht nichts tut, dass die emotionale Befindlichkeit der Hohepriester der Empörung seltsamerweise nicht berührt ist. Und das hat Gründe. Denn seit langem befindet sich die Republik in einem anderen Spiel. Und das ist das der Symbolpolitik. Es geht seit langem nicht mehr darum, Missstände aufzudecken und sie zu beseitigen, sondern es geht um eine Entladung der Verzweiflung über die eigene Unzulänglichkeit. Eine Unzulänglichkeit, die daraus entsteht, dass viele Menschen sich nicht mehr in der Lage fühlen, selbst in die Politik und die durch sie verursachten Zustände einzugreifen. Und die stetig wachsende, und nicht mehr zu leugnende Angst, sich mit seinem eigenen Gesicht und Namen zu exponieren, um Kritik anzustoßen und die Verhältnisse zu verändern, führt zu einer sich im unzivilisierten Verhalten ständig steigernden Meute.
Es ist offensichtlich, dass Angst und Verzweiflung zu irrationalem Handeln verführen. Wer diesem Weg folgt, erlebt kurzfristige Entlastung, in dem der emotionale Stau aufgelöst wird. Nur ändert sich nichts und es es ist folgerichtig, dass sich nach der Entladung der nächste Stau bereits anbahnt. Denn, so trivial ist es, wenn sich nichts ändert, dann bleibt alles so, wie es ist. Und die Diagnose ist ebenso profan, dass moralische Entrüstung große Anteile von Eifersucht im Heiligenschein aufweist. Menschen, die sich in dem beschriebenen Teufelskreis von Unbehagen und Zornstau befinden, sich aber nicht trauen, mit ihrer eigenen Identität aufzustehen, verzeihen es jenen nicht, die das machen. Sie an den Pranger zu stellen, das beschert ebenso wieder eine kleine Entladung, die nichts verändert und nur dazu beiträgt, das Spiel wieder neu aufzustellen.
Als vor einigen Jahren die Redakteure von Charlie Hebdo in Paris ermordet wurden, weil sie von ihrem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht und giftige Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatten, explodierte das Netz mit Bekenntnissen unter dem Signet „Je sui Charlie!“. Jetzt ist die Frage zu stellen, ob sich noch irgend jemand von jenen Menschen daran erinnert, dass unter lautem Geheul dieses Recht und der Wert des freien Wortes verteidigt wurde, oder ob die eigene Gesellschaft ein Stadium erreicht hat, wo da alles nicht mehr gilt?

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