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Ein antikes Drama im amerikanischen Ghetto

Robert Lowry. Tag, Fremder

Ein Roman über Boxen, 1953 zum ersten Mal veröffentlicht, als Empfehlung zur Lektüre im Jahr 2020? Die Antwort ist Ja. Robert Lowry hat mit „Tag, Fremder“ eine Erzählung hinterlassen, die in Mark und Bein geht. Obwohl das Thema vordergründig von Geschehnissen gespeist wird, die durch den Weltmeisterschaftskampf zwischen Sugar Ray Robinson und Jake LaMotta inspiriert wurden, handelt es sich um eine Geschichte von nahezu archaischer Universalität. Ein schwarzer Boxer aus Harlem trifft auf eine extravagante, weiße Künstlerin aus Greenwich Village. Den Rahmen bildet die Vorbereitung auf einen Kampf, bei dem die Hauptfigur sein Gegenüber nicht nur durch einen lupenreinen Knock Out besiegt, sondern tötet.

Ohne den Verlauf der Handlung preiszugeben, geht es in diesem Lehrstück über das Existenzielle um vieles, was bis heute, auch nach der großen Ära des Boxens, die Gemüter bewegt, weil es immer noch, oder vielleicht mehr denn je zur gesellschaftlichen Realität gehört. Da ist ein Boxer aus dem afroamerikanischen Milieu zu sehen, der in dem Metier den einzigen Weg sieht, um sich sozial zu emanzipieren. Erfolgreiches Boxen bringt ihm Geld. Mit seinen Anlagen wie mit seinem Willen gelingt ihm das und sein Verhalten ist, trotz aller Professionalität was seine sportlichen Belange anbetrifft, das eines sozialen Parvenüs, der dennoch sympathisch wirkt. Und da ist eine junge weiße Frau, die über eine kulturell gediegene Sozialisation verfügt, die von den dazugehörenden Selbstzweifeln einer bildenden Künstlerin teilweise paralysiert ist und nach einem Kick sucht. Beide treffen aufeinander und finden zueinander, ohne die Friktionen, die ihre soziale Herkunft verursachen, lösen zu können. Am Ende steht das Scheitern und der Tod. Und da sind die Geschäftsinteressen, von denen auch das Boxen seit jeher geprägt ist, das keinen Raum für die Befindlichkeiten der Akteure lässt.

Lowry hat in diesem Roman, der packend geschrieben ist und einen profunden Einblick in die Psyche der handelnden Personen wie die Mechanismen gesellschaftlichen Wirkens gibt, nichts an Aktualität verloren, auch wenn der Boxsport längst nicht mehr den Stellenwert besitzt, den er einmal hatte. Die Rassenunterschiede sind virulenter denn ja, die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs der Underdogs sind begrenzter denn je und das Geschäftsprinzip, dem es um Gewinn und nichts anderes geht, auch immer zu Lasten derer, von dem es profitiert, steht nach wie vor in voller Blüte. Transponierte man die Handlung in ein anderes, zeitgenössisches Milieu, dann wäre es das Stück von Literatur, das heute so schmerzlich zu vermissen ist. Robert Lowry hatte das Auge für die Risse in der Gesellschaft und die daraus resultierenden Dilemmata, die sich daraus für all jene ergaben, die versuchten, diese Risse zu überwinden. Zu Schluss sind alle gebrochen. Diejenigen, die tatsächlich scheiterten als auch diejenigen, die scheinbar Erfolg hatten. Der Preis für die Überwindung war der Tod. Das klingt dramatisch, das ist dramatisch, und geändert hat sich daran nichts. 

„Tag, Fremder“ gehört zu jenen Juwelen der modernen Literatur, deren Qualität zudem durch das Wirken des Übersetzers Carl Weissner, seinerseits allzu oft nur mit Charles Bukowski oder den Texten der Rolling Stones assoziiert, richtig zur Geltung kommt. Sein Schaffen ging weit darüber hinaus und niemand wie er hat es verstanden, den amerikanischen Slang, das Idiom und den Soziolekt so authentisch ins Deutsche zu übertragen wie er. Das ist Underground im wahren Sinne des Wortes.

Die Lektüre ist ein Erlebnis, das vielleicht am besten gekennzeichnet wird als ein antikes Drama, aufgeführt im amerikanischen Ghetto.

  • Gebundene Ausgabe : 244 Seiten
  • ISBN-10 : 3807703136
  • ISBN-13 : 978-3807703138

All Along The Watchtower

Auf die soeben verkündete Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan kann ich nur sehr persönlich reagieren. Erst kürzlich traf ich im Internet einen Freund aus alten Schultagen. Wenn ich richtig rechne, haben wir uns zum letzten Mal gesehen, als wir beide siebzehn Jahre alt waren. Als ich ihn kontaktierte, war seine erste Reaktion, dass er mir All Along The Watchtower in der Version von Jimi Hendrix sandte. Ich war berührt, war es doch das Stück, dass ich einen ganzen Sommer lang gehört und ihm damals vorgespielt hatte. Er schrieb mir, wenn er das Stück höre, müsse er immer an mich denken. Ich antwortet ihm, dass ich es bis heute für ein grandioses Stück hielte, und nicht nur wegen der großartigen Art, in der es Jimi Hendrix interpretiert hätte, sondern auch wegen des Textes von Bob Dylan. Ich schrieb ihm, das sei mit die beste Prosa, die im 20. Jahrhundert geschrieben worden wäre. Und er gab mir sofort Recht.

Es war sicherlich kein Zufall, dass der musikalische Revolutionär Jimi Hendrix sich sehr früh für das Covern eines Stückes des Textrevolutionärs Bob Dylan entschieden hatte. Solche Leute haben ein Gespür dafür, wo neue Korridore geöffnet werden. All Along The Watchtower wird in den vielen Hommagen, die der stets umstrittene und immer auch heftig kritisierte Bob Dylan in diesen Tagen bekommen wird, nicht in der ersten Rehe genannt werden. Da gibt es andere Songs, deren Texte die meisten begeistern. Es werden die Stücke sein, die für den Frieden oder die Rebellion sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es diese Texte sind, die die innovative Genialität Dylans im Sinne des Begriffs Literatur ausmachen. Denn Bob Dylan bleibt sich auch in dieser Situation treu, ohne es selbst zu wollen: Er ist für viele schwer lesbar, weil er sich nie festlegte und deshalb auf kein Klischee reduzieren lässt. Das verärgert viele. Letztendlich hat er mit seinem Lebensweg und seiner Interpretation selbst diejenigen, die glaubten, sie könnten ihn für sich beanspruchen, ohne jegliche Gnade des Konservatismus überführt.

Der Dialog zwischen einem Narren und einem Dieb, die sich in ihrer Diagnose über die Ungerechtigkeit und den Widersinn der Welt schnell einig sind, die beschreiben, wie sie ihrer Früchte beraubt werden und die darüber in Verwirrung geraten, ohne dass sie verzweifeln, weil sie erkennen, dass die Art, wie sich die Zeit fortbewegt, nur in einer Situation enden kann, in der vieles wiederum auf den Kopf gestellt werden wird, dieser Dialog beinhaltet den ganzen Diskurs der Postmoderne. Sowohl Dylans Worte und Metaphern, die übrigens in analog genialer Weise von dem unvergessenen Carl Weissner als Übersetzung in deutscher Sprache vorliegen, als auch Hendrix´ kontrapunktische Instrumentierung sind vielleicht das Pionierstück des 20. Jahrhunderts per se. Ach, wie golden war diese Stunde, für alle Freunde des Wortes wie der Musik. Und wie groß war und ist die Strafe für diesen einzigartigen Genuss. Generationen von fahlen Plagiatoren und Kohorten von eindimensionalen Lichtern sollten folgen, die den Raum für das Wort und die Musik kontaminierten.

Der Literaturnobelpreis an Bob Dylan war seit langem überfällig. Ich empfehle, ihn mit Hendrix´ Version von All Along The Watchtower zu begehen, denn da ist dann noch ein anderer beteiligt, der nicht vergessen werden wird. Und wenn es euch gefällt, dann entzündet noch eine Kerze für Carl Weissner, für den wäre heute auch ein großer Tag. Und damit wollen wir zufrieden sein!