Zeiten wie Perspektiven ändern sich. „Brits Out Now!“ war ein Slogan der IRA im republikanischen Teil Irlands und er bezog sich auf die Präsenz Großbritanniens auf der irischen Insel. Die Forderung, dass sie endlich abhauen, hat sich nie erfüllt. Aber der Terror auf beiden Seiten konnte eingedämmt werden, weil die IRA ihre Waffen abgab und sich mit ihrem politischen Flügel Sinn Fein in die Parlamente wählen ließ. Der Norden blieb jedoch britisch und er könnte jetzt wieder ein Stein des Anstoßes werden, wenn von dort aus versucht wird, mit britischen Gütern wie Finanzmodellen in die südliche Republik einzudringen, um EU-Bestimmungen zu umgehen. Möglich ist vieles, und der jetzigen Regierung von Boris Johnson ist einiges zuzutrauen.
Sollten die Überlegungen des jetzt, endlich, aus der Perspektive zumindest ungefähr der Hälfte der Briten, befreiten Großbritanniens in die Richtung gehen, sich als eine mit Dumpingware und Finanzen handelnden Macht gehen, dann wäre das Nadelöhr Republik Irland genau die Gasse, durch die sie gehen müssen. Die Konflikte, die sich daraus ergeben würden, hätten allerdings nicht mehr den lokalen Charakter früherer Tage, sondern sie erwüchsen sogleich zu einer international brisanten Geschichte, weil die EU-Organisation sich geschlossen gegen dieses Vorgehen stellen müßte. Dann wäre es eine Frage weniger Tweets, dass die kecken Londoner Finanzexperten Unterstützung aus Washington bekämen. Denn dort gelten Vereinbarungen schon lange nichts mehr, sondern man bevorzugt den Deal mit geladener Pistole.
Was bis jetzt lediglich ein Szenario ist, kann schnell Wirklichkeit werden, muss es aber nicht. Entgegen der tränenrührigen Verabschiedung der britischen Abgeordneten aus dem Europaparlament mit dem Absingen der alten schottischen Hymne „Aude Lang Syne“, die in Trauer auf die vergangene Zeit zurücksieht, scheint bereits eine ganze Menge Misstrauen im Spiel zu sein. Das Dramatische dabei ist die Beiderseitigkeit. Auf das skrupel- wie hemmungslose Vorgehen der so genannten Brexiteers stößt die Arroganz einer offiziellen Version der Europäischen Union, die längst nicht in der Realität beheimatet ist. Es ist zu befürchten, dass die Zeit nach der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens in großem Maße durch die Auseinandersetzung um bestimmte ökonomische Muster bestimmt sein wird.
Unter diesem Aspekt kann der Abgang Großbritanniens nur begrüßt werden. Von dort aus wurden die zurückliegenden Jahrzehnte des Wirtschaftsliberalismus begonnen und immer wieder befeuert. Das Ergebnis wird GB sicherlich treffen, auch wenn es direkt mit dem Verlassen der EU gar nichts zu tun hat. Das Land setzt exklusiv auf Handel und Finanzen, die Wertschöpfung ist nahezu komplett Opfer des Outsourcing. Die noch im 19. und 20. Jahrhundert anrüchigen Geschäftsmodelle sind von Soho in die City of London umgezogen und zu den gepriesenen Referenzstücken des Wirtschaftsliberalismus avanciert. EU-Mitgliedschaft oder nicht, das Land hat ein ausgewachsenes Strukturproblem, das mi dem Ventil des Brexit nicht behoben ist. Es werden soziale und politische Auseinandersetzungen im Stile der jetzigen französischen folgen.
Denn mit dem Abgang GBs aus der EU ist die Dominanz des Wirtschaftsliberalismus nicht gegangen. Sowohl in der deutschen Regierung und der aus ihr rekrutierten EU-Kommissionspräsidentin sind Kräfte dieser Idee an den Hebeln der Macht und mit dem französischen Präsidenten Macron ist ein Zögling dieser Ideologie auf der Bühne, der wie einst Margarete Thatcher bereit und willens ist, den Polizeiknüppel solange auf die Häupter der Unwilligen dreschen zu lassen, bis das Land befriedet ist. Der Schoß des Wirtschaftsliberalismus, der die Demontage der demokratischen Institutionen inkludiert, ist auch innerhalb der EU fruchtbar noch.
