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Das Rudel, die Doxa und die Banalität des Bösen

Boris Cyrulnik, Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können

Aufgrund seiner persönlichen Kindheitserfahrungen und aufgrund des tragischen Schicksals seiner Eltern könnte man es als eine notwendige Folge betrachten, dass der 1937 in Bordeaux geborene Neuropsychiater Boris Cyrulnik, rückblickend auf eine lange und erfolgreiche Karriere in seinem Beruf, sich mit den Wirkungsphänomenen beschäftigt, die das Drama seiner Familie mit auslösten. Seine aus Polen stammenden Eltern wurden in den Vernichtungslagern ermordet und er entkam als Kind den Schergen nur durch die Mithilfe mutiger Menschen. In seinem jüngsten Buch mit dem Titel „Die mit den Wölfen heulen“ reflektiert er die verschiedenen Aspekte, die eine Gesellschaft zur Barbarei treiben können. 

Und obwohl die Anlässe seiner Betrachtung immer im historischen Terrain des Faschismus begründet sind, kann alles, was Cyrulnik an Erkenntnissen in diesem Buch preisgibt und zur Disposition stellt, auch in unsere aktuelle gesellschaftliche Situation übertragen werden. Es sind die Fragen, wie es zu der von dem französischen Soziologen Bourdieu als Doxa bezeichneten Lage kommen kann, nämlich die Herrschaft von Überzeugungen und Meinungen, die von einer Gesellschaft nicht hinterfragt wurden, aber als wahr und wirklich angenommen werden. Und welche Mechanismen wirken, wenn sich Individuen in den Tross von unheilvollen Kohorten begeben, obwohl sie wissen, dass deren Ansichten wie deren Benehmen unzivilisiert und brutal sind. Was macht das von ihm so treffend gemachte logische Delirium aus, das dazu verleitet, aasend durch die Zeit zu rasen und das verhindert, sich kühlen Kopfes mit dem auseinanderzusetzen, was vor den eigenen Augen vor sich geht. 

Das Buch ist im Grunde eine Übung mit vielen Variationen zu dem immer wieder auftretenden Konflikt zwischen kalter Ratio und Massenpsychose. Anhand vieler Beispiele illustriert Cyrulnik sowohl die notwendigen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Handeln und die fatale Logik fehlgeleiteter Handlungen. Das, was Hanna Arndt, die er explizit immer wieder zitiert, die „Banalität des Bösen“ genannt hat, taucht in vielen Varianten auf.

Die Lektüre dieses Buches ist nicht nur ein bereichernder Beitrag, um die fatale Geschichte von Diktatur und Vernichtung rückblickend unter dem Aspekt seiner psychologischen Wirkungsweisen zu dekonstruieren, sondern auch genug Denkstoff für den gesellschaftlichen Zustand, in dem wir uns aktuell befinden. Was machen die heutigen technischen Möglichkeiten der Massenkommunikationsmittel mit uns? Was müsste unternommen werden, um einen rationalen, fundierten Kompass zu schaffen, um gegen die psychotischen Entwürfe von unzähligen Heilsbringern aller möglicher Couleur bestehen zu können? Was ist erforderlich, um gegen das Rudel zu bestehen?

Boris Cyrulnik, Die mit den Wölfen heulen, eine Empfehlung, die zu mancher Grübelei führen wird!

 Herausgeber  :  Droemer HC; 1. Edition (1. März 2023)

  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  240 Seiten
  • ISBN-10  :  3426279002
  • ISBN-13  :  978-3426279007
  • Originaltitel  :  Le Laboureur et les Mangeurs de vent. Liberté intérieure et confortable servitude