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Ancién Regime

Manche Zitate kehren thematisch immer wieder. Zuweilen sieht das aus wie die Rondo-Formationen im Garten Versailles kurz vor dem Debakel des Ancién Regime. Alle wissen es, alle tanzen auf die Melodie und dennoch glaubt niemand, dass es trotzdem kommt. So ist es mit dem Satz von Berthold Brecht, stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin. Wie vieles bei Brecht ist es die Negation der allgemeinen Wirkungslogik, intrinsisch aber dennoch logisch. Das war sein Genius. Er vermochte die Welt auf den Kopf zu stellen und erklärte sie gerade damit. Vielleicht wäre das ein Zugang, der über die alltäglichen Schmerzen hierzulande hülfe.

 Stell dir vor, wir reden über einen Krieg im Osten, anlässlich der Ukraine, und keiner nähme das ernst außer dem Westen. Der bläst sich auf, will dem Despoten Putin mal so richtig zeigen, wie weit er gehen darf, und gleichzeitig betätigt sich Russland an der Schaffung einer völlig neuen Sicherheitsarchitektur, die auf Kooperationen beruht und den Westen Westen sein lässt. Nachweislich passiert das nämlich. Russlands Außendiplomatie konzentriert sich momentan auf die BRICS-Staaten, vor allem die Kooperationen mit Brasilien, Südafrika und China stehen auf Expansionskurs. Gleichzeitig hat sich das Band zum Iran gefestigt. Während sich Europa auch im Nahen oder Mittleren Osten, je nach Perspektive, aus der man es sieht, eher zu einem Störenfried denn zu einem Kooperationspartner entwickelt hat, verliert es zunehmend an Bedeutung. Zudem, weil die Kohäsion mit den transatlantischen USA in letzter Zeit erheblich gelitten hat.

Ja, seit der Theorie der Avantgarde galt es als gesichert, dass es zu den großen, strategischen Vorteilen des Kapitalismus gehöre, in der Lage zu sein, Proteste gegen ihn und seine Funktionsweise rasend schnell dadurch zu entschärfen, als dass er vermöge, die Ideen gegen ihn zu vermarkten und sie damit zu domestizieren. Zwischen den Auftritten der ersten Punker, die einen Schock auslösten und der ersten Punk-Boutique lagen bekanntlich nur wenige Monate. Nun, zum ersten Male, sieht es so aus, dass die Gegenbewegungen gegen den freien Kapitalismus in Form der gesteuerten Märkte aus anderen Gesellschaftssystemen die Oberhand gewinnen. Nicht, weil sie den Charme der intellektuellen oder kulturellen Dominanz besäßen, sondern weil der Trash, den sie produzieren, das einzige noch Übrige sind, was die Geldbeutel der großen Gesellschaftskohorten noch hergeben.

 Der Kapitalismus hat mit dem Übergang zur Börsenspekulation den Zugang zum Reichtum der Warenproduktion in den eigenen Ländern versperrt. Übrig geblieben sind Minderheiten, die sich auf der ganzen Welt den Bauch vollschlagen können und Mehrheiten, deren Träume zerborsten sind und die nur noch existieren können, weil in China mit Lohndumperei, Kasernierung und Umweltverpestung Massenschrott produziert wird, der notwendig ist, um amerikanische, britische und zunehmend zentraleuropäische Märkte zu bedienen, deren waren die jeweiligen Unterschichten noch bezahlen können. Und die politische Stabilität des Westens hängt von diesem Warenstrom ab.

 Da hilft es nicht, sich darüber zu mokieren, dass gerade Russland auf tönernen Füßen steht oder dass China mit seinen 50 Millionen Wanderarbeitern auch irgendwann vor großen sozialen Problemen stehen wird. Das löst nur nicht das Problem vor der Haustür. Die Illusion, es hier noch machen zu können, egal aus welchem Loch der Hierarchie du kommst, ist für viele nicht einmal mehr nachbuchstabierbar. Geschweige denn das Märchen von der Überlegenheit gegenüber anderen Systemen. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass es verschiedene Wahrheiten auf dem Globus gibt. Ein Todesstoß für die Verkünder missionarischer Ideen.

Gabriel Garcia Marquez. Erzählung und Nationenbildung

Gabriel Garcia Marquez ist tot. Mit 87 schied er dahin. Nach einem langen, erfüllten Leben, in dem er Werke schuf, die lange noch gelesen werden. Hundert Jahre Einsamkeit oder Die Liebe in Zeiten der Cholera sind große Erzählungen, die heute unter dem Begriff des magischen Realismus geführt werden. Doch das ist eine literarische Kategorie, die zwar das Werk beschreibt, aber nicht seine Wirkung. Nach dem Tod von Marquez verordnete der kolumbianische Präsident eine dreitägige Staatstrauer. Das ist die Wirkung. Gabriel Garcia Marquez war der große Erzähler der kolumbianischen Nation. Er hatte das geschaffen, was vielleicht am besten als die Metapher des kolumbianischen Volkes beschrieben werden kann. Er entnahm seinen Stoff aus den alltäglichen Lebensbedingungen, aus den Merkwürdigkeiten, die die Leute daraus ableiteten und woraus sie ihre Motivation entwickelten. Das heißt, Marquez traf den Nerv des Geistes und der Emotion. Es gelang ihm, indem er sich zeit seines Lebens als Bestandteil des großen Ganzen fühlte und auch so verhielt. Marquez lebte in keinem Elfenbeinturm, in dem die Sprache und die Bilder des Volkes verblichen.

Es sind die großen Erzähler, die in der Lage sind, an so etwas wie einer nationalen Identität mitzuarbeiten, die einzelne politische Episoden und Systeme überdauert. Charles Dickens war so einer, den in London mehr als eine halbe Millionen Menschen zu Grabe trugen. Tolstoi und Puschkin, die in Moskau ihre Denkmäler haben, ertrinken täglich in einem Meer frischer Blumen. Und ein Zola oder Balzac sind auf ihren Friedhöfen zu Paris bis heute nie allein. Und ein John Steinbeck gehört zum amerikanischen Geschichtsunterricht bis in unsere Zeit, ein Mark Twain genießt immer noch Kultstatus. Die Zuneigung, die die genannten Schriftsteller bis heute in ihren Ursprungsländern erfahren, resultiert aus ihrer Untrennbarkeit von den allgemeinen Lebensbedingungen und Nöten ihrer Völker. Sie sind der Grundstein, der emotionale Konsensus der Nation.

In Deutschland, dem so genannten Land der Dichter und Denker, das spöttisch von Franzosen wie Briten so bezeichnet wurde, weil es sich mit der Nationenbildung so schwer tat, fehlen derartige Gestalten. Natürlich gab es große Schriftsteller und Erzähler, aber sie trafen keinen nationalen Konsens. Schiller läutete mit seinen aufregenden Dramen das bürgerliche Zeitalter
ein und schrieb für die treibende Klasse, Goethe war schon das, was man die deutsche Krankheit nennen könnte, er schuf Geniales, aber als Staatsbeamter, Heine musste als jüdischer Bildungsparvenü ins Exil, Lessing, emanzipatorisch wie er war, schrieb Fabeln, die zu anspruchsvoll waren, Brecht widmete alles der neuen Klasse des Industriezeitalters, Thomas Mann verschrieb sich einem elitären Ästhetizismus. Der große Erzähler, der in aller Bücherschrank steht und der zur Überlieferung des allgemein als gültig Erachteten konnte in dem nationalen Bruchstück, das Deutschland immer blieb, nicht gedeihen. Es gab diese Erzähler, aber sie hatten immer nur regionale Wirkung.

Es kann nur bei einer Feststellung bleiben. Die Sinnstiftung, die durch die literarische Überlieferung des nationalen Psychogramms einem Land widerfährt, blieb in Deutschland aus. Umso bewundernswerter ist es, wenn so etwas woanders gelingt. Die Deutschen sollten sich dessen bewusst sein. Man kann sie dafür nicht haftbar machen. Aber es erklärt vieles. Umso respektvoller sollte der Blick in die Länder sein, wo die Dramaturgie der Geschichte so etwas schuf. Gabriel Garcia Marquez war für die Kolumbianer so ein Glücksfall. Er ist aus der Geschichte so wenig wegzudenken wie das Volk selbst. Eine Kongruenz, für die es dankbar ist.

Maslows Vermächtnis

Nicht nur der 1908 in Brooklyn geborene Abraham Maslow hatte eine Vorstellung von den Motivationslagen des Menschen. Im Rahmen seiner Arbeiten zur humanistischen Psychologie entwickelte er jedoch ein Schema, dass bis heute eine gute Orientierung darüber liefert, wo sich Menschen und Gesellschaften befinden. Berthold Brecht, der große Zuspitzer und Vereinfacher, hatte das Maslow´sche Schema auf den Punkt gebracht: Erst kommt das Fressen, so hieß es bei ihm, dann kommt die Moral. Maslow war da anders vorgegangen, hätte sich aber kaum gegen die Brecht´sche Pointierung gewehrt.

Maslows Ausführungen, die in die Geschichte als Bedürfnispyramide eingegangen sind, können wie folgt zusammengefasst werden: Bevor sich der Mensch mit dem befasst, was ihn als kulturelles und zivilisiertes Wesen ausmacht, müssen bestimmte Bedürfnisse gesichert bzw. befriedigt werden. In Stufen bedeutet dieses in besagter Pyramide, dass zunächst Grund- und Existenzbedürfnisse befriedigt werden müssen, danach die Sicherheit gewährleistet sein muss und dann erst das Sozialbedürfnis zur Geltung kommt. Ist das alles geschehen, treten Wünsche nach Wertschätzung und zu guter Letzt die Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Aus heutiger Sicht klingt das alles andere als sensationell, als Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist die Anwendung der Pyramide allerdings eine brisante Angelegenheit.

Es ist ein Screening wert: Welche Themen auf den Titelblättern der wichtigsten Tageszeitungen, welche Themen in den digitalen Nachrichtenkanälen beschäftigen sich in unserer Sphäre eigentlich mit welchen Stufen der Maslow´schen Bedürfnispyramide? Ganz so einfach, wie zunächst zu vermuten wäre, ist es nämlich nicht. Die gegenwärtige Gesellschaft ist kein homogenes Gebilde, dem man eindeutige Charaktermerkmale zuweisen könnte. Bezogen auf die Nachrichtenmagazine kann eine Tendenz ausgemacht werden, die bis auf die Stufe der Grund- und Existenzbedürfnisse alle Fragen abdeckt. Es scheint davon abzuhängen, unter welcher Rubrik die Sache beleuchtet wird.

Bezogen auf die unterschiedlichen sozialen Gruppen und Klassen ist die Sache jedoch klar: wenn Jobs vorhanden sind, dann geht es mehr um Wertschätzung und Anerkennung und je besser sie sind, desto mehr geht es um Selbstverwirklichung. Die, die keine Arbeit haben, die finden meistens gar nicht statt, dass es denen allerdings zunächst um die Sicherung der Grundbedürfnisse gehen wird, liegt auf der Hand. Gesamtgesellschaftlich spielt das Thema Sicherheit eine Sonderrolle, was keine Frage des sozialen Status, sondern eine des biologischen Alters der Gesellschaft ist. Je älter die Population, desto mehr fürchtet sie um ihre Sicherheit.

Betrachtet man die Themen in besagten Kanälen, so ist sehr schnell zu erfahren, dass unsere Gesellschaft gehörig altert, dass sie die tatsächlich vorhandene Kohorte derer, die um die Existenz kämpfen, konsequent ignoriert und dass die Form von Herrschaftsideologie darüber kommuniziert wird, wie Wertschätzung und Selbstverwirklichung erlangt werden können. Saturiert wäre ein Attribut, das für den Status Quo zuträfe, wäre da nicht das Phänomen der Tabuisierung. Denn die Ignorierung der Mittellosigkeit betrifft nur einen, allerdings nicht zu unterschätzenden Teil der Gesellschaft, aber die Frage nach dem Sozialbedürfnis betrifft alle. Letzteres ist in der Ära der Digitalisierung einer Deprivationsoffensive ausgesetzt gewesen, wie sie vorher noch nie in der Geschichte stattgefunden hat. In einer Gesellschaft, die ihren gesamten Wohlstand dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu verdanken hat, ist es verständlich, dass die Vorbehalte gegen die Technisierung der sozialen Beziehungen nicht so groß waren, wie die angerichteten Verheerungen es verdient hätten. Das Kommunikationszeitalter hat das mittlere Glied aus Maslows Pyramide geschossen und alle starren ins Leere.