Schlagwort-Archive: Autokratie

Dilemma oder große Initiative?

Des Deutschen Lust, so scheint es, ist das Dilemma. Glaubt man den gegenwärtigen Meinungsumfragen, an denen aufgrund sehr oft zu beobachtenden suggestiven Fragestellungen immer wieder gezweifelt werden kann, dann ergibt das Verhältnis der Bevölkerung allen Anlass zu einer Bestätigung des eingangs genannten Phänomens. Demnach sind nämlich ein Fünftel noch der Meinung, die gegenwärtige Regierung sei in der Lage, die Herausforderungen unserer Tage positiv anzunehmen. Das ist, ehrlich gesagt, so niederschmetternd wie kaum jemals zuvor in der Geschichte der Republik. Aber, und das ist allerdings kein Hinweis auf Erleichterung, glauben nahezu Dreiviertel der Befragten nicht, dass eine Regierung, die von der größten Oppositionspartei geführt würde, eine größere Kompetenz besäße. Um es einfach und für jedermann verständlich auszudrücken: Egal, wer von denen, die gewählt wurden, es auch macht, es wird nichts werden.

Mit einer solchen Befindlichkeit im Tornister ist wahrlich nicht gut Reisen. Besonders in Zeiten wie diesen. In denen ein Krieg in geographischer Nähe tobt und in dem trotz erheblicher Unterstützung und horrender Opferzahlen das ausgegebene Ziel nicht zu erreichen ist, in der die Verwerfungen im Nahen Osten nicht dafür sprechen, dass in naher Zukunft irgend etwas wird befriedet werden können, in der die eigene Wirtschaft aufgrund der Energiepreise, der Bündnisstruktur, des Innovationsklimas, des Faktors Arbeit etc. gehörig schwächelt, in der die Resultate aus dem Bereich der Schulbildung nicht dem eigenen Anspruch genügen, in der die öffentliche Infrastruktur nach Investition und Innovation schreit etc.. Nicht, dass vieles nicht besser gemacht und gemanagt werden könnte – aber eine solche Bilanz erfordert mehr, als dies die eine oder andere Regierungskoalition leisten könnte.

Natürlich ist es bequem, und an den zugegeben vielen Fehlern, die eine konkrete Regierung macht, herumzumäkeln. Aber genügt das? Macht das nicht genau die Opposition? Und warum traut auch dieser kaum jemand zu, dass sie in der Lage wäre, das alles zu lösen? 

Genau da scheint der Punkt zu liegen, wenn man nicht der Auffassung ist, durch einen wie auch immer gearteten Systemwechsel das Allheilmittel zu wissen. Autokratischer, da bin ich mir sicher, soll es nicht werden. Ganz im Gegenteil, vielleicht liegen manche Defizite in dem Wahn begründet, durch ein Monstrum von Reglements die Welt in den Griff bekommen zu können. 

Nicht die Regierung, sondern die ganze Gesellschaft wäre gut beraten, wenn sie sich dazu entschlösse, den Sachen auf den Grund zu gehen. Einmal zu fragen, ob die Epoche, die die Überschrift für die jeweilige Politik geliefert hat, nämlich die des Wirtschaftsliberalismus, nicht ihren Teil dazu beigetragen hat, dass eine Krise in die andere übergangen ist? Und ob das Mantra, die Welt nach dem eigenen Antlitz formen zu wollen, was der Pax Americana entspricht, nicht Ursache für viele Konflikte geworden ist? Und ob der Prozess, der schleichend mit diesen beiden Tendenzen einher ging, aus einem Rechtsstaat einen Gesetzesstaat zu machen, nicht alles betäubt hat, was die freie Initiative der einzelnen Glieder einer Gesellschaft ausmacht?

Die Lösung im Handstreich zu liefern ist immer etwas für Heldensagen, nicht für die Realität. Aber wenn ich darüber nachdenke, was Abhilfe schaffen könnte, was befreien könnte, dann wäre das eine große Initiative, die durch die ganze Gesellschaft geht und von ihr getragen wird. Das scheinen auch die Menschen zu spüren. Mit einem Regierungswechsel allein ist nichts gewonnen. Dann bleibt es beim Dilemma.

Der Laden muss laufen und der Anspruch gelebt werden

Fast möchte man allen raten, die verzweifelt sind und noch unter Kriterien aufwuchsen, die dem christlichen Abendland entsprachen, sich auf die Knie zu werfen und die Hände bittend gen Himmel zu richten. Vielleicht nicht gleich, um Gott um Erlösung zu bitten, sondern den großen Weltgeist anzurufen und zu bitten um Einsicht. Allzu unübersichtlich sind die Verhältnisse, in denen sich die auf sich gestellten Individuen bewegen müssen. Allzu undurchsichtig ist ihr jeweiliges Treiben. Allzu sinnlos scheint die Welt geworden zu sein. Wer vermag noch Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten? Wem ist es noch gegeben, Gegebenheiten, die im Detail vernünftig erscheinen, in einen größeren Zusammenhang zu stellen und neu zu bewerten? Und, nicht zuletzt unter vielem mehr, wer hat noch die Courage, nach bestem Wissen und Gewissen überhaupt ein Urteil zu fällen?

Es scheint so, als wäre das Gesellschaftskonzept, welches mit dem Bürgertum der westlichen Welt in Form kam und das das Individuum, seine Entfaltung und sein Glück als Zentrum der Betrachtung sah, den Schlägen, die die Welt seit der Globalisierung durch Finanz-, Kapital-, Waren- und Geldbewegungen erfuhr, nicht mehr gewachsen ist. Zumindest die Fähigkeit, Krisen zu meistern, erweckt den Eindruck eines kollektiven Ertrinkens in einem Meer der Unübersichtlichkeit. 

Und so absurd es erscheint: etwas eifersüchtig schielt der Westen auf die Gesellschaften, die mal als asiatische Despotien, mal als auf dem Kollektivismus basierende Autokratien beschrieben werden, zum Teil schneller und besser den Schlägen auszuweichen vermögen. Die Anarchie, die der flächendeckend verbreitete Kapitalismus dem Weltgeschehen präsentiert, erfordert zweierlei: der Laden muss laufen und der Anspruch muss dabei gelebt werden. Und was machen die gewitzten Regierungen des Westens? Sie kopieren, selbstverständlich unter anderem Vorzeichen, die dirigistischen, mit Sanktionen durchsetzten Vorgehensweisen eben jener Staaten, um das rettende Ufer, den Machterhalt, zu erreichen.

Das konkrete Handeln ebenjener Regierungen ist an Absurdität nicht zu steigern. Gemäß der von ihnen wie dem gesamten Staatsgebilde und ihm zugrunde liegenden Dokumenten wäre der logische Schluss, die Individuen wie das Kollektiv zu ermächtigen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Mit diesem Mantra geht man schließlich rund um den Globus, um die Vorzüge des eigenen Staatswesens zu reklamieren. Die Frage, wie es aus der Perspektive kollektivistischer Gesellschaften oder anderer, in der der Freiheitsbegriff ein gänzlich anderer ist, ankommt, wenn bei ernsthaften Erschütterungen die Essenz des eigenen Staatswesens über Bord geworfen und mit Ausnahmegesetzen, Sonderbestimmungen, restriktiven Verhaltensregeln operiert wird und die vitalen Rechte des Systems außer Kraft gesetzt werden, erschließt sich dem externen Beobachter aus der Distanz nicht.

Insofern ist es zu verstehen, dass der politische Ruf der westlichen Gesellschaften in der letzten Zeit im Weltmaßstab sehr gelitten hat. Das kann man den Menschen in den anderen, nicht zu unterschätzenden Winkeln dieser Welt nicht vorwerfen, ganz im Gegenteil, es ist folgerichtig. Denn wie soll ein seiner Sinne mächtiger Beobachter darauf reagieren, wenn ein System, das für sich wirbt, bei der ersten Krise alles, was das System ausmacht, schleunigst im Gully verschwinden lässt? 

Es ist zu raten, sich umzuschauen und zu erfahren, wie die Welt auf den systemischen Sinneswandel reagiert. Wenn das fruchtet, böte sich vielleicht die Chance, auch jene, mitten unter uns, zu verstehen, die diese Mutation des eigenen Systems aus gutem Grunde nicht einsehen wollen. Indem auch sie ignoriert werden, gleich der Perspektive aus anderen Ländern, macht man sie auch zu Außenstehenden. Und auch sie werden den Kopf schütteln und sich enttäuscht abwenden.  

Türkisch-brasilianische Analogien

Innerhalb der letzten zwei Wochen haben zwei Länder von sich reden gemacht, die in der letzten Dekade mit sehr unterschiedlichen Philosophien versucht haben, sich zu modernisieren. Zum einen handelt es sich um die Türkei, die nun wegen der Proteste auf dem Taksim Platz, die eine Kettenwirkung auf das ganze Land hatten, in die Schlagzeilen geraten war. Zum anderen geht es um Brasilien, wo wegen der Austragung des Confed Cups Hunderttausende ihren Unwillen mit der aktuellen Politik zum Ausdruck brachten. In Istanbul war der Anlass ein Bauprojekt, dem ein Park zum Opfer fallen soll, in Sao Paulo und Rio de Janeiro ging es um den Testlauf für die Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2014 und die damit verbundenen Belastungen des Staatshaushalts.

Die Gemeinsamkeit beider Länder besteht in dem Versuch, sie in großem Maße zu modernisieren. Auf der einen Seite versucht das Präsident Tayyep Erdogan seit einem Jahrzehnt mit einer technokratischen Note, gestützt auf konservativ-islamische Eliten, auf der anderen Seite die Präsidentin Dilma Rousseff als Nachfolgerin des legendären Lula da Silva, die aus dem gewerkschaftlich-sozialistischen Milieu stammt und stark auf staatsinterventionistische Maßnehmen vertraut. Die dortigen Modernisierungseliten kommen folglich aus dem politischen Funktionärswesen.

Während Brasiliens Präsidentin sehr früh auf den mit Wucht einsetzenden Protest so reagierte, dass sie die Nation aufforderte, den vornehmlich jungen Protestanten gut zuzuhören, weil diese etwas zu sagen hätten, vermutete der türkische Präsident hinter den Demonstranten sofort einen internationalen Komplott. Beide Reaktionen sagen etwas aus über das eigene Politikverständnis. Hier die demokratisch sozialisierte Gewerkschafterin, die um ihre Abhängigkeit von demokratischen Entscheidungsprozessen weiß, dort der autokratische Macher, der demokratische Prozesse allenfalls als ein notwendiges Übel begreift, um sich international sauber legitimieren zu können, der aber anscheinend auch aus machtpolitischem Kalkül gewillt ist, darauf zu verzichten, wenn er seine Position mit anderen Gewalten gesichert werden kann.

Interessant ist, dass sowohl der türkische als auch der brasilianische Modernisierungsprozess die Rechnung sowohl ohne die industriellen als auch die kreativen Klassen in den Metropolen gemacht haben. Weder die islamisch-autokratische noch die etatistisch-sozialistische Dominanz haben bei dem Tempo des Wandels vermocht, die Dimension einer integrierenden Wirkung zu erreichen, die erforderlich gewesen wäre, um die politisch-kulturellen Justierungen vorzunehmen, die bei einem solchen Prozess erforderlich sind. Obwohl die Probleme beider Länder nicht vergleichbar sind, existieren Analogien, die bei der Betrachtung des gesellschaftlichen Wandels von hohem Interesse sein müssen.

Bei aller Kritik, die aus der Ferne nun aufkommt, darf man nicht außer Acht lassen, dass in beiden zu betrachtenden Ländern von großem wirtschaftlichen Erfolg gesprochen werden muss, wenn die Wirkungsdaten der Modernisierung auf den Tisch gelegt werden. Die Türkei ist wirtschaftlich so stark wie nie im 20. Jahrhundert und Brasilien hat es vom lateinamerikanischen Hinterhof zu einem globalen Wirtschaftsgiganten gebracht. Die große Zustimmung zur Politik der Modernisierung hielt in beiden Ländern so lange an, wie die Teilhabe daran zumindest in Aussicht gestellt blieb. Und bevor sich neu heraus gebildete Eliten zu Horten der Korruption entwickelten und neue Klassen, die entstanden, die sich aus Modernität und Internationalität definierten, keine Möglichkeit der politisch adäquaten Artikulation erblickten.

Die Reaktion der beiden Staatsführungen lassen allerdings erste Prognosen über die Zukunft der jeweiligen Projekte zu: Während Erdogan mit martialischer Spaltung der Gesellschaft droht, setzt Rousseff auf den Dialog. Wenn bei Modernisierungsprojekten aufgrund der rasenden Entwicklung gesellschaftliche Justierungen erforderlich werden, bleibt Demokratisierung das probateste Mittel.