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Kommune und Zivilisation

Bestimmte Phänomene beunruhigen, wenn sie auftreten. Das liegt zumeist an der Abweichung von Erwartetem. Unter dem Gesichtspunkten der Zeiterscheinungen ist das vor allem eine Verhaltensweise, die immer wieder auffällt und die abweicht von dem erwarteten natürlichen menschlichen Reflex. Es ist das Agieren von Mitgliedern eines sozialen Systems, das seinerseits in eine Krise geraten ist. Die normale Erwartung, die sich speist aus historischen Typologien und geglaubten anthropologischen Erkenntnissen, richtete sich auf einen Zusammenschluss der Individuen in diesem System, einer Identifikation mit demselben und eine Initiierung von Solidarität. In der Alltagssprache würden wir das Erwartete den Beschützerinstinkt, vielleicht aber auch weitergehend den Selbsterhaltungstrieb nennen. Was wir aber immer häufiger beobachten können, hat damit nichts zu tun.

So, als hätten die in und von dem sozialen System lebenden Menschen nichts damit gemein, beginnen sie bei den ersten Anzeichen der Systemkrise, sich ihrerseits zu distanzieren und Aktivitäten zu entfalten, die man vielleicht als die Begleichung alter Rechnungen bezeichnen könnte, wohlmeinend aber auch die Initiierung von Handlungen und Konfliktfeldenr, die in unkritischen Zeiten normal sind, aber in der Krise tödlich sein können. Im besten Falle also sprächen wir von einer strategischen Inkompetenz, die allerdings nahezu zelebriert wird. Die Polarisierung innerhalb des Systems, das durch strukturelle Mängel im Innern genauso gefährdet sein kann wie durch Angriffe von außen, nimmt im Stadium der Bedrohung nahezu suizidale Züge an.

Es geht bei der Beschreibung des Phänomens in keinem Falle um die Sehnsucht nach dem, was man auch einen Burgfrieden nennen könnte. Es geht nicht um Unterordnung und nicht um die Diskreditierung notwendiger Kritik. Es geht um das Phänomen der Ausblendung des existenziell Notwendigen. Böse Zungen könnten behaupten, dass die chronische Überflutung der Einzelnen mit Gütern wie der Ideologie der absoluten Individualisierung zu einer Entwicklung zur Soziopathie geführt hat. Und diese bösen Zungen sprechen sicherlich kein falsches Wort, wenn sie dieses Faktum mit dem Attribut der Dekadenz behaften. Jenes Symptom, das die wachsende Unfähigkeit zum Ausdruck bringt, sich als einzelnes Glied in der Gemeinschaft zu arrangieren und selbst einen Beitrag zu leisten zum Erfolg des Ganzen.

Stattdessen wird die Kommune, denn um diese geht es letztendlich als politischem Begriff, ob es sich nun um ein privates, ein soziales, ein wirtschaftliches oder korporatistisches Gebilde handelt, von immer mehr Menschen als ein Abstraktum gesehen, das über ihnen schwebt und das unabhängig von den Beiträgen der Einzelnen existiert. An dieses Abstraktum werden Forderungen gestellt, die dazu geeignet sind, das eigene Leben zu verbessern, es wird aber nicht die Frage gestellt, wie das soziale System, von dem der Einzelne abhängt, unterstützt und weiterentwickelt werden kann durch die Initiative des Einzelnen.

Der zur Ideologie gewordene Egoismus, der sich entwickeln konnte aufgrund der Diskreditierung der Kommune, hat dazu geführt, dass die individuellen Existenzgrundlagen der Kommune bis auf wenige Residuen zerstört sind. Neoliberalismus, Spekulation und Massenopportunismus haben dazu geführt, dass die berühmten Mühen in der Ebene, in denen sich soziale Systeme immer befinden, dem Verständnis derer, die von und in ihnen leben, zu einem großen Teil fremd geworden sind. Das erklärt, warum die Menschheit gegenwärtig eine Renaissance der Barbarei erlebt. Die Kommune ist das Bollwerk der Zivilisation. Gegenwärtig wird es von innen gestürmt.

Der Fall des Hochmuts

Es gibt Situationen im Leben, da ändert sich alles. Da musst du dich beweisen und stehst ganz allein. Und es hilft dir nichts und niemand. Alles, was du an Hilfsmitteln so sehr schätzt, zählt nichts, jede Technik und Taktik gilt plötzlich nichts mehr. Alles, was du hast, bist du selbst. Und wenn du diese Herausforderung meisterst, dann deshalb, weil du alles gegeben hast, wozu du in der Lage bist. Denkst du zulange nach, ist es schon vorbei, reklamierst du Hilfe von außen, hast du ebenfalls keine Chance. Nur du bist entscheidend und alles, was du in diesem Moment mobilisieren kannst. Muhammad Ali, der Größte, hat solche Situationen auf den Sport umgemünzt. Aber diese Beschreibung ist so treffend, dass sie auch im zivilen Leben hilft. Champions, so seine kluge wie gültige Definition, Champions haben eine Vision, sie sind schnell, sie können und sie wollen, aber der Wille ist wichtiger als das Können.

K.O.-Spiele simulieren die beschriebene Situation, in der es auf alles in nur diesem einen Moment ankommt. Und vor einer solchen stand gestern das deutsche Team. Bemüht man Alis Definition von Champions, dann ist die Messe schnell gelesen: Sie können, aber sie haben wohl keine Vision, sie sind nicht schnell und von Wille war erst sehr spät etwas zu spüren. Die meiste Zeit des Spiels war für uns Betrachter so gruselig, dass sie keine Zeile verdient. Algerien präsentierte sich als eine wunderbare Mannschaft, die eine Vision hatte, zuweilen schnell war, konnte und wollte. Dass sie nicht erfolgreich war, lag daran, dass die Deutschen spät begriffen, dass sie kämpfen mussten, ohne die Verluste im Vorhinein zu kalkulieren. Sie verließen für einige Augenblicke ihre Schwarzwälder Sparclub-Mentalität und hatten unsägliches Glück. Dass sie davon überhaupt noch etwas beanspruchen konnten, verdankten sie dem verlorenen Sohn im Tor, der über den Platz fegte wie ein American Footballspieler und sich damit als eine der spielerisch schillerndsten Figuren des Turniers empfahl.

Alles andere ist ein Desaster. Das Bilanzieren ist der Worte nicht wert. Wer sich mit dieser Mentalität durchsetzt, nimmt dem Turnier seinen bisherigen Glanz und reklamiert für sich den Coup. Das hat Holland gegen Mexiko bereits praktiziert, Frankreich in Grenzen gegen Nigeria, eine Partie, die auch zu Beschäftigungen in der nahegelegenen Küche stimulierte, und nun, in seiner ganzen Peinlichkeit, das deutsche Team. Nun verrät sich auch, in den Gesprächen danach, mit wem wir es im eigenen Lande zu tun haben. Wer jetzt davon faselt, es hat doch gereicht, den kann man als Bündnispartner für aktive Gestaltung des Lebens abschreiben. Die deutschen Edelathleten haben sich mit Algerien zu einem Ringkampf getroffen, sich hinein begeben und als sie nicht mehr weiter wussten, den Revolver aus dem Strumpf gezogen und abgedrückt.

Vor dem Turnier wurde in ernster zu nehmenden Kreise bereits darüber reflektiert, ob diese Generation von Deutschen, inklusive Trainer, noch das Gen besitzen, das sie in der Vergangenheit nicht nur im Fußball ausmachte: Kämpfen und, wenn es sein muss, zurückzukommen. Wir wissen es immer noch nicht. Aber egal, was noch passiert, sie haben sich schäbig präsentiert, auch wenn sie erfolgreich waren. Es war der Abend Algeriens. Chapeau, Respekt, und Bismillah, euer Gott war nicht bei euch, aber ihr, ihr allein habt den Fußball in dieser Nacht gerettet!

Die Flaschenpost des Albert Camus

Nichts eignet sich besser für eine Hommage als ein runder Geburtstag. Je länger das Ableben eines Schriftstellers, Philosophen, Künstlers zurück liegt, desto größer die Spielräume, die sich einer neuen Interpretation öffnen. Zumeist sind die Klischees ja schon alle bedient. Goethes Zahnschmerzen und heimliche Lieben wurden genauso ausgeleuchtet wie Balzacs Kaffeekonsum oder Gertrude Steins homoerotische Allianzen, Picassos Ausnutzung junger Frauen genauso wie Hemingways Sauftouren. Irgend etwas lässt sich immer finden, um die Kunst oder das durchdachte und wohl gewählte Wort derer, um die es bei einem Jubiläum geht, ein wenig in die seichten Gewässer der Kolportage zu ziehen, um von der Dürftigkeit dessen abzulenken, was übrig geblieben ist als das Gelernte von dem, was diese wachen Geister uns zumeist hinterlassen haben.

Nun, ganz aktuell, zum 100. Geburtstag des so früh verstorbenen Albert Camus, werden wir wieder überhäuft von Hommagen, die sich auf die Evidenz beziehen. Ja, Camus wurde in Algerien geboren, kam aus einfachen Verhältnissen, wurde Existenzialist, brach mit Sartre und verstarb viel zu früh bei einem Autounfall. Der Roman, mit dem er groß wurde, hieß Die Pest und sein philosophisch-politisches Hauptwerk war Der Mensch in der Revolte. Letzteres führte zum Bruch mit Sartre, der nicht verstand, dass Camus die Entwicklung der Sowjetunion so kategorisch kritisierte. In der einen oder anderen Rezension taucht in diesem Zusammenhang noch der Hinweis auf, dass gerade in dieser Konsequenz in Bezug auf die rote Repression der wohl bis heute bei Camus unterschätzte Anarchismus stecke. Wenn Konsequenz bei der Ablehnung von Repression so ein Alleinstellungsmerkmal ist, sollte das verstören. Und ob das Anarchismus ist, sei dahingestellt.

Was etwas untergeht, und das ist kein Zufall, sind die nahezu kongenialen Kernsätze der beiden Denker. Hatte Sartre in seinem Hauptwerk, Das Sein und das Nichts, in elaborierter Form darauf hingewiesen, dass das Sein etwas zu Leistendes ist, so hatte Camus, aufbauend auf dieser Erkenntnis, die er nie in Zweifel zog, die dennoch immer existierende Unvollkommenheit des Menschen als Grundlage für die Überlegung zu einem politischen System genommen. Denn kein Mensch, so Camus, wäre je so vollkommen, als dass er nicht den Versuchungen der absoluten Macht erläge. Gerade diese beiden Sätze jedoch bedingen einander, wollten wir uns heute mit so etwas wie einer Philosophie der Befreiung wieder beschäftigen. Aber genau das ist bei den Hommagen von der Stange wohl nicht beabsichtigt, würfe es doch ein sehr kritisches Licht auf die Intellektuellen in den Zentren der Welt in denen Sartre und Camus lebten.

Wer sich heute mit einem Text wie Der Mensch in der Revolte beschäftigt, der wird hart auf die Frage der Intellektuellen gestoßen. Welche Rolle haben sie gespielt, in den sechzig Jahren nach Camus Tod? Haben sie ihre Gesellschaften davor bewahrt, den Gedanken an die existenzielle Pflicht des Individuums völlig in den Müllcontainer zu werfen, haben sie dagegen gearbeitet, als die Welt neu aufgeteilt wurde in eine internationale Arbeitsteilung, die den Profit anonymisiert und die Würdelosigkeit derer, die sich verausgaben, internationalisiert hat? Das alles wären sehr unbequeme, weil berechtigte Fragen, derer man sich lieber verweigert in einer Welt, die in therapeutischen Ansätzen versinkt und die die Notwendigkeit einer eigenen, aktiven Rolle in der Revolte lieber reduzieren möchte auf die Geschichte von französischen Intellektuellen, die in Cafés herumsitzen und chiq über die Welt räsonieren. Letzteres ist ein Selbstbild derer, die sich anmaßen, heute über den Menschen in der Revolte zu schreiben. Camus hat nie so gelebt.