Wenn ein Trugschluss unsere gegenwärtige Epoche beherrscht, dann ist es die Vorstellung, bei Beibehaltung der Form entspräche man automatisch dem Inhalt. Formalismus ist die große Falle, in der nahezu alle verfangen sind. Und der Unmut, der sich über die ganze Gesellschaft ausbreitet, ist dem Instinkt geschuldet, dass da irgend etwas mächtig aus dem Ruder gelaufen ist. Und, das versteht sich nahezu von selbst, am gravierendsten ist das Missverhältnis auf dem Feld der Politik zu spüren. Das meiste, was dort vonstatten geht, entspricht den Erfordernissen der Form. Mehrheiten sind Mehrheiten und Beschlüsse sind Beschlüsse. Und dennoch sind die anderen Mehrheiten, auf die es in jeder Gesellschaft ankommt, nämlich die Mehrheiten aus der Gesellschaft, mit den Mehrheiten, die in den Parlamenten die Beschlüsse fassen, nicht zufrieden. Wie das kommt?
Zum einen spielt sicherlich eine Tendenz eine nicht unerhebliche Rolle, und das ist die der egozentristischen Entartung. Viele Menschen sind nach einer über Jahrzehnte währenden Entwicklung dahin gehend geprägt worden, dass nur das, was sie direkt, im konkreten eigenen Bereich und Heute betrifft, von Interesse ist. Was darüber hinausgeht, gilt als uninteressant. Das mag ein gelungener Ausdruck individueller Fresssucht sein, ein Zeichen von gesellschaftlicher Weitsicht ist es nicht.
Und der andere, wesentlich gravierendere Grund ist allerdings die Verselbständigung der Politik. Sie findet in einer von allen störenden gesellschaftlichen Partikeln des Alltags chemisch gesäuberten Atmosphäre statt, in der das Volk, in dessen Auftrag man eigentlich unterwegs ist, nur als präparierte Kulisse vorkommt. Wenn das dann dennoch gleich einem Unfall tatsächlich zu den Mandatsträgern vordringt, wird es zumeist peinlich. Dann, so die Ferndiagnose der abgekapselten Politik, kann es sich nur um U-Boote der immer zahlreicher werdenden äußeren Feinde oder um mit dem Irrsinn verbandelte Sonderlinge handeln.
Die tiefe Überzeugung aller, sie handelten richtig, wenn sie nur der Form entsprächen, ist ein Symptom einer Zeit, in der Wesen und Inhalt immer mehr zu einem Arrangement verkommen sind, in dem das Dekors eine wesentlich größere Rolle spielt als der Kern. Der Italiener Alessandro Barrico hat das in einem lesenswerten Essay in der Zeitschrift La Republica beschrieben, über die Musik bis zum Fußball und zur Frikadelle, hat er die Oberflächlichkeit umrissen, mit der wir es epistemologisch zu tun haben. Die Tiefe und damit das Wesen ist längst passé und die Welt des Westens, der seinerseits zu seiner Blüte durch die Aufklärung gekommen ist, zerfleischt sich in einem Kampf um Schachtelaufschriften und ist nicht mehr in der Lage, sich über das zu streiten, auf das es wirklich ankommt.
Wie damit umgehen? Vielleicht am besten mit Shakespeare:
„Wir wissen nicht einmal, wer wir sind,
Es kommt, was kommen muss,
Und das geschwind!“
Neben der erkenntnistheoretischen Eintrübung, die die Digitalisierung mit sich gebracht hat, kommt in Deutschland noch das bis heute wabernde Trauma der bösen Tat hinzu. Da ist guter Rat teuer, außer dem Hinweis an alle, die noch etwas Verstand und Zuversicht in sich tragen, zu appellieren, niemals dem Unrecht den Rücken zu kehren und auf sich selbst zu achten. Das ist, angesichts der gewohnten Vollmundigkeit aus chronischer Selbstüberschätzung, vielleicht nicht viel. Aber es kann viele Leben retten. Und das ist schon wieder der Mühe allemal wert.
