Archiv der Kategorie: Ostenmauer

Ostenmauer – 74. Die würgende Zeit

Nein, ich will nicht in den Chor derer einfallen, die über die besondere, ambivalente Bedeutung  des 9. November auf die deutsche Geschichte reflektieren. Obwohl das viel hergibt. Dreimal in einem Jahrhundert hat ein ganz bestimmtes Datum große Relevanz: Der Sturz der Monarchie, die Pogromnacht 1933 und die Implosion der DDR 1989. Da kann schon so einiges in Beziehung gebracht werden. Und es kann spekuliert werden über den Nationalcharakter der Deutschen, mal rebellisch, mal bestialisch, mal human. Und dann stehen wir wieder da, wir arme Toren, und sind so klug als wie zuvor. Ohne die Reflexion über die deutsche Geschichte zurückweisen zu wollen, ganz und gar nicht, denn es geschieht viel zu wenig, aber mir geht es hier um etwas ganz anderes: welche Bedeutung hat die Reflexion von Geschichte überhaupt? Bringt sie das, was sich viele von denen, die aus den Katastrophen des XX. Jahrhunderts politische Schlussfolgerungen ziehen wollten, vorgestellt haben? 

Die Überlegung war, aus den historischen Ereignissen auf deutschem Boden Lehren zu ziehen. Diese sollten vor allem dahin gehend wirken, dass eine Demokratie immer nur so stark ist wie das Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger, dass die Menschenwürde unantastbar sei und die Ausgrenzung von Menschen innerhalb der Gesellschaft aufgrund von Religion, Geschlecht, Ethnie etc. nicht geduldet werden dürfe, dass Kriege auf fremden Territorien ein Tabu und dass die Gewalten im Staat geteilt sein sollten. Und die Vision der die Katastrophe Überlebenden bestand darin, diese Lehren in den Köpfen der nachfolgenden Generationen fortpflanzen zu können.

Ein finnischer Politologe, dessen Name in der Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung verloren ging, präsentierte kürzlich das Ergebnis einer von ihm durchgeführten Untersuchung, die sich damit befasste, inwieweit historische Ereignisse eine Wirkung auf nachfolgende Generationen tatsächlich noch haben. Und er kam zu dem Ergebnis, dass selbst die Schockwirkung historischer Katastrophen trotz ständiger Vergegenwärtigung in Schule und Kultur und im nationalen Narrativ ab der dritten Generation nicht mehr die gewünschte Wirkung haben. Die Erfahrung verliert mit den dahinscheidenden Zeitzeugen ihr Unmittelbares und sie wird nach und nach zu einer mittelbaren Erscheinung, die keine moralische Strahlkraft mehr besitzt. Was war, bewegt nicht mehr.

Der Begriff des Defätismus kommt in seiner deutschen Anwendung aus dem Französischen und beinhaltet das Stammwort Niederlage. Defätismus ist folglich die Überzeugung, dass alles, was geschieht, in einer Niederlage enden muss. Angesichts des paraphrasierten Versuchs des finnischen Politologen und angesichts des anwachsenden Nationalismus in Europa läge es einem Defätisten nahe, nun zum Besten zu geben, dass jede Form der Berufung auf die Vergangenheit auch nichts mehr bewerkstelligen könnte. 

Unabhängig von der möglichen Wirkung vermittelter Geschichte auf nachfolgende Generationen existiert noch eine Kategorie, die wesentlich entscheidender ist. Es ist die Unterscheidung von richtig und falsch. Und wer sich mit dieser Frage beschäftigt, wird sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, dass es richtig ist, Zerstörern von Mensch, Moral und Ressource die Rote Karte zu zeigen. Wer sich dabei historischer Vergleiche bedienen kann, hat einen Vorteil. Wer sich nicht darauf berufen kann, kann dennoch urteilen. Insofern ist die Lage nicht so schlecht, wie sich das der masochistische Defätist vielleicht wünschte. 

Euphorie ist ebensowenig angebracht. Vielleicht ist die Formulierung, die Alfred Döblin in seinem großartigen, immer wieder lesenswerten Roman „November 1918. Eine deutsche Revolution“ benutzte, durchaus treffend für das, was wir zur Zeit erleben:

„Die Zeit würgte aus sich heraus, was sie in sich hatte. Blieb abzuwarten, ob sie davon gesund wurde.“

Die würgende Zeit

Ostenmauer – 73. Das Vierte Reich bleibt in Manhattan

Das Vierte Reich bleibt in Manhattan

Schlendert man durch Yorkville, einem recht angenehmen Viertel auf der New Yorker Insel Manhattan und betrachtet die Namensschilder an Gebäuden oder selbst einige Werbeschilder genauer, wird einem sehr schnell bewusst, wo man sich befindet. Auf einem großen Sporthallengebäude ist in längst verblichener Schrift etwas von einem New York Turnverein zu lesen, über einer Metzgerei hängt ein grün schimmerndes Schild mit der Aufschrift „Fleischermeister Erwin Weber“ und die nächste Kneipe trägt den Namen Würzburger Hof. Von da ist es nicht mehr weit zur Bäckerei Tannenbaum.

Yorkville war seit der Jahrhundertwende ein Viertel, welches von Deutschen bei der Ansiedlung in New York City bevorzugt wurde. Aber erst in den dreißiger Jahren, vor allen Dingen nach jenem 30. Januar 1933, als der deutsche Nationalheld Hindenburg den damals noch mutmaßlichen Völkermörder Hitler als Reichskanzler seinen Segen gab, wurde aus Yorkville ein dicht bevölkertes German Town.

Alles, was dem kulturellen Holocaust des deutschen Faschismus zum Opfer fiel oder gefallen wäre und als Land des Exils die Vereinigten Staaten von Amerika wählte, trieb es zunächst nach Yorkville. Ein bißchen weiter, Richtung Central Park, im deutschen Buchladen von Mary Rosenberg, kauften sie die für sie so lebenswichtige Nahrung, deutsche Literatur. „Alle waren sie meine Kunden“, meint Mary, „Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, Gerhard Eisler, Franz Jung, Ernst Bloch usw., ja sogar Karl Otto Paetel, nur den Brecht hab ich persönlich nicht gesehen.“

Die Amerikaner, oder besser gesagt die New Yorker, hatten dann auch schnell einen Namen für dieses German Town, diesen amerikanischen Kulturfokus der deutschen Emigration. Sie nannten es „the Vierte Reich“. Und das war nicht nur als Satire auf die Gigantomanie des Dritten Reiches der deutschen Faschisten gedacht, sondern es drückte auch die Hoffnung vieler aus, dass, wenn der Spuk in Europa erst einmal vorbei sei, ein neues Deutschland in der Tradition derer stehen sollte, die nach Yorkville geflohen waren.

Schreitet man heute die Boulevards und Avenues des Vierten Reiches ab, so braucht man schon das historische Wissen, um noch etwas von dem zu spüren, was in diesem Viertel einmal die Hoffnung auf die kulturelle Aura eines deutschen Neuanfangs ausstrahlte. Doch die Erinnerung daran ist noch von keiner deutschen Realität eingelöst worden. Bei dem, was sich in diesen Tagen in den Strategiepapieren der Bonner Spekulanten und Fusionshaie in puncto Viertes Reich finden lässt, wird das auch wohl in naher Zukunft noch so sein. In dem geographischen Raum der beiden deutschen Staaten hat ein Viertes Reich zur Zeit nichts verloren. Das Vierte Reich, die Hoffnung von Yorkville, das bleibt wohl besser noch für eine Weile in Manhattan.

1990, im März 

Das Vierte Reich bleibt in Manhattan

Ostenmauer – 72. Makarenkos Motto

Das Phänomen, mit dem wir uns momentan alle auseinandersetzen müssen, besteht in der Ungewissheit und der aus dieser abgeleiteten Tristesse. Warum das Nicht-Wissen zumeist einen Weltschmerz hervorbringt, liegt wohl im Wesen des Menschen begründet. Zumindest im Wesen dessen, den wir in den gefühlt  final-zivilisatorischen Gesellschaften des Westens antreffen. Kein Veränderungsprozess kann dort beginnen, ohne dass ein immenser Aufwand betrieben und immer wieder kommuniziert wird, dass die bevorstehende Veränderung nichts schlechtes ist, dass sie sogar Vorteile bringen wird und dass niemand bei dem Prozess zu Schaden kommen wird. Die Skepsis bleibt immer und es ist ein aufregendes wie aufzehrendes Geschäft, den Wandel zu gestalten.

Warum das so ist, lässt sich nur vermuten. Dass es in einer Gesellschaft grassiert, die seit der Renaissance für eine ungeheure Dynamik steht, ist hinsichtlich des Kollektivbewusstseins etwas absurd, es sei denn, man betrachtet es durch die Brille der sozialen Kosten, die Umbrüche verursachen und die Adresse derer, die in der Regel den Preis bezahlen. Da sind es immer die gesellschaftlich Schwächsten gewesen, d.h. diejenigen, die selbst nicht in der Lage waren, zu gestalten, selbst wenn sie es gekonnt hätten oder diejenigen, die sich schlicht im Sinne Darwins nicht anpassen konnten. Game over! Rien ne va plus! Ob das zu der heutigen Massenskepsis geführt hat? 

Aber, auch das wissen wir, jammern nützt nichts. Das schrieb schon der längst aus der Mode gekommene Pädagoge des revolutionären Russland, Anton Semjonowitsch Makarenko, über den Eingang einer seiner Musteranstalten für die Eingliederung der Besprisornis, obdachloser, vagabundierender Kinder und Jugendliche, die in den Zeiten des zusammenbrechenden Zarismus ein Massenphänomen waren und die heute unter der Chiffre UMAs ihre modernen Vorboten nach Europa schickt. Nicht jammern! Das stand da, und das war der Ausgangspunkt einer harten Pädagogik, die darauf setzte, Menschen heranzubilden, die sich mit eiserner Disziplin selbst aus dem Morast ziehen konnten und die eine Aufgabe darin sahen, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Der Schriftsteller Maxim Gorki gehörte als Kind dieser Gruppe an und er beschreibt in seinen autobiographischen Erzählungen die Erfahrungen, die er dort machte, und zwar als seine Bildungsetappen.

Das Jammern, seinerseits Massenphänomen unserer Tage, obwohl im Vergleich mit vielen anderen Ländern die Lebensbedingungen als sehr gesichert gelten, stünde einem Teil der Gesellschaft, aber nicht der großen Mehrheit, zu. Insofern handelt es sich um eine Dekadenzerscheinung, die nur den Sinn hat, von der Aktivität konstruktiven Gestaltens abzuhalten und sich an den Szenarien eines möglichen Untergangs zu laben. So lässt sich in der grausamen Dimension der Logik denen, die sich dem Jammern verschrieben haben, eine schlechte Prognose für die Zukunft ausstellen. Das sei all denen ins Journal geschrieben, die eigentlich das Zeug dazu hätten, sich über die Zukunft und ihre Gestaltung Gedanken zu machen.

Und natürlich drängt sich da auch ein Zitat aus den Geschichten aus dem Wienerwald des so unglaublich ums Leben gekommenen Ödon von Horváth auf. Der war bekanntlich auf dramatische Weise den Nazis durch die Maschen gegangen und hatte es bis ins damals noch freie Paris geschafft. Dort flanierte er erleichtert auf den Champs Élysée und wurde bei einem aufkommenden Sturm – von einem herabfallenden Ast erschlagen.

Ach ja, das Zitat: Ich gehe, und weiß nicht, wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!

Makarenkos Motto