Archiv der Kategorie: Ostenmauer

Ostenmauer – 77. Von Siegen und Niederlagen

Wenn ich an das Begriffspaar denke, muss ich immer an einen Satz aus der Rede Karl Liebknechts denken, die er wenige Tage vor seiner Ermordung in Berlin gehalten hat. „Es gibt Siege, die sind verhängnisvoller als Niederlagen und Niederlagen, wertvoller als Siege!“ Unabhängig von dem historischen Kontext, denn er hielt die Rede kurz nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands, beinhaltet der Satz die ganze Dialektik, die das Leben bietet. Denn nichts sollte in seiner Absolutheit betrachtet werden, sondern immer in seiner Mehrdeutigkeit und unter dem Aspekt der Möglichkeit, zu lernen. 

Ich brauchte nicht viel Zeit, um zu begreifen, dass ein Sieg immer Kosten in sich birgt, die zuweilen den Genuss des Triumphes übersteigen. Und ich gab mich auch nie damit zufrieden, nach Niederlagen einfach nur die Segel zu streichen. Mein Vater, der den Krieg in seiner ganzen Länge wie Grausamkeit erlebt hatte, teilte mir früh die Lehre seiner Alterskohorte mit, dass es nicht schlimm sei, hinzufallen. Aber das Liegenbleiben war der sichere Tod. Und mein Lateinlehrer überzeugte mich mit der Metapher, dass es sich bei der Lateinischen Sprache um etwas handele wie eine harte Brotkruste. Die ersten Bisse sind wenig überzeugend, aber je länger man darauf herumkaut, desto süßer wird der Geschmack.

Das sind Anwandlungen, die von heutigen Generationen nicht verstanden werden, was aus meiner Sicht mehr über deren Perspektiven aussagt als über dass Fazit meines Lebens.  Denn aus der Dialektik von Triumph und Niederlage ist vieles zu lernen. Und quasi als ein Beiprodukt ist so etwas entstanden wie Widerstandskraft. Dass ich das Boxen wählte, ist folglich kein Zufall. Und das, was ich heute als Theorie zur Dechiffrierung meines Lebens anbiete, hatte mit diesem Sport auch eine authentische Unmittelbarkeit. 

Und ich habe sie alle gesehen: die strahlenden Sieger, die schnell unter die Räder kamen, weil sie keine Nehmerqualitäten hatten. Und die Underdogs, die aus dem Blechnapf gefressen hatten und irgendwann ganz oben standen. Und nicht als Hierarchie gemeint. Sie konnten oben stehen, obwohl sie immer noch das Flanellhemd  trugen und kein Geld in der Tasche hatten. Und die anderen, mental verpauperten, obwohl sie mit allen Insignien des materiellen Reichtums ausgestattet waren, wie sie durch ihr Dasein krochen.

Und wieder war es eine glückliche Fügung, von den Menschen umgeben zu sein, die wussten, wovon sie sprachen. Da machten selbst Niederlagen glücklich.

Von Siegen und Niederlagen

Ostenmauer – 76. Die kränkelnde Blässe der Misanthropie

Die Zeiten, in denen der Dramaturg Heiner Müller zu Protokoll gab, zum Frühstück gebe es bei ihm ein Stück blutiges Fleisch und eine Tasse Benzin und ein Wolf Wondraschek verlauten ließ, der Tag beginne mit einer Schusswunde, ein Eric Burdon sang, er sei mit einer Pistole im Mund aufgewacht und Charles Bukowski der Menschheit bescheinigte, sie hätte einfach nicht das Zeug dazu, etwas Vernünftiges auf die Beine zu stellen und ein Gerhard Zwerenz brüllte, die Erde sei unbewohnbar wie der Mond, diese Zeiten liegen hinter uns. Was in den Ohren heutiger junger Mitbürger klingt wie ein universelles No Go, war damals der Ausdruck eines Lebensgefühls, das die Widrigkeiten der Verhältnisse anerkannte und gleichzeitig ein Trotzdem verlauten ließ. Es war eine lebensbetonte Kampfansage an Herrschaft par excellence, und es verriet eine Phantasie, die ihres gleichen suchte. Für Melancholie, Nostalgie, Lethargie und, nennen wir es beim Namen, blasierte Arroganz, war da kein Raum. Und die Zeiten, in denen diese Atmosphäre herrschte, waren besser. Nicht, weil die Verhältnisse besser waren, sondern weil die Bereitschaft da war, zu verändern und zu gestalten.

Heute sitzen diejenigen, die das kulturelle Schaffen für sich reklamieren, vor ihren sie steuernden Displays, sie folgen einem restringierten Code, der von den Herrschenden zertifiziert wurde und der nur noch suggerieren kann, man sei kreativ. Mental sind wir Zeugen einer pathologischen Passivität geworden, die zu keiner wirklichen, das heißt die Verhältnisse ändernden Vision passt. Die gerümpfte Nase ist vielleicht der signifikanteste Gestus, den diese Spezies der Misanthropie noch hervorbringt. Misanthropie deshalb, weil sie ein ungeheures Wissen darüber akkumuliert hat, was Menschen alles falsch, aber nichts darüber verlauten lassen, was sie richtig machen können und müssen, wenn sie die Verhältnisse ändern wollen. Die vielen Fehler lassen nur den Rat zu, alles so zu lassen, wie es ist, oder alles noch schlimmer machen zu sollen, als es sein könnte. Die weit verbreitete Aura unserer Tage, die sich als ein Vorabend erweisen werden, ist die kränkelnde Blässe der Misanthropie.

Was an diesem Vorabend, der Ausdruck einer bevorstehenden neuen Zeit ist, fehlt, was aber kommen muss und kommen wird, dass ist die Ansage mit offenem Visier, das Frühstück mit blutigem Fleisch und Benzin, die Schusswunde im Morgengrauen und die Bereitschaft, das zu sagen, was ist. 

Die kränkelnde Blässe der Misanthropie

Ostenmauer – 75. Das Ei des Kolumbus

Ja, wir leben in unruhigen Zeiten. Und ja, viele Menschen fühlen sich verunsichert. In unzähligen Gesprächen, egal, wo sie geführt werden, ob im Büro oder morgens beim Bäcker, ob in der Straßenbahn oder abends mit Freunden, immer mehr wird der Wille deutlich, dass etwas geschehen muss, um das destruktive Treiben derer, die die Macht haben, durch Wille und Vernunft zu beenden. Warten, dass ist der Tenor, Warten ist keine Alternative. Wenn gewartet wird, dann kommen andere, die vorgeben, Lösungen parat zu haben. Was daraus wird, hat die Geschichte gezeigt. Insofern ist die positive Botschaft dieser Tage, dass sich immer mehr Menschen darüber im Klaren sind, dass sie etwas machen müssen, um die Verhältnisse zu ändern.

Die negative Nachricht kann jedoch nicht unterschlagen werden. Immer mehr von denen, die bereit wären, etwas zu tun, beklagen die Wirre im Kopf, wenn es darum geht, herauszufinden, was richtig und falsch ist. Sie beklagen, die Orientierung verloren zu haben. Es ist ein Massenphänomen, das zurückzuführen ist auf die heiße Schlacht um die Wahrheit, die nicht selten endet in einem Duell beiderseitiger Fake News. Da ist guter Rat teuer. Deshalb ist ein Anliegen, auf Narrative zu verweisen, die jeder kennt und die deutlich machen, dass es gut ist, dem eigenen Verstand und der eigenen Erfahrung zu trauen und daraus die entsprechenden Schlüsse und Entscheidungen abzuleiten.

Als kleines Beispiel soll das berühmte Ei des Kolumbus gelten. Was war da noch geschehen?

Als Kolumbus mit seiner ramponierten Flotte zurückkam von der Entdeckung der Neuen Welt, löste das selbstverständlich großes Aufsehen aus. Auf einem der vielen Bankette, auf denen sich Kolumbus zeigen musste, stellte ihn der berühmte und berüchtigte Kardinal Mendoza zur Rede. Man bedenke, diese Begebenheit spielte im Jahr 1493 und es war bei weiten nicht die Geburtsstunde der Aufklärung im Land. „Wenn ich dich so reden und erzählen höre“, so richtete Kardinal Mendoza sein Wort direkt an Kolumbus, „so komme ich zu der Auffassung, dass deine Reise, die du so herausstreichst, von einem jeden hier im Saale hätte gemacht werden können!“

Christoph Kolumbus forderte in seiner Replik die gesamte Tischrunde auf, doch bitte ein Ei mit der Spitze nach unten zum Stehen zu bringen. Zwar etwas verwirrt, aber dennoch begann gleich der Versuch eines jeden, der Aufforderung nachzukommen. Logischer wie bekannter Weise scheiterten die Versammelten allesamt. Dann nahm Kolumbus ein Ei und schlug es mit der Spitze nach unten leicht auf die Tafel, so dass es zum Stehen kam. Und noch während die Runde, allen voran Kardinal Mendoza, begann, gegen die Methode des Kolumbus zu protestieren, sendete er ihnen die Botschaft, um die es ihm ging: „Ihr sagt, so hättet ihr es machen können, ich aber habe es getan!“

Das Narrativ, das sich seit einem halben Jahrtausend hält, stellt heraus, dass es darum geht, den eigenen Verstand zu benutzen und bereit zu sein, pragmatisch das zu tun, von dem man überzeugt ist und dass es zum Ziel führt. Ein sehr einfacher Sachverhalt, der besonders in Zeiten der ideologischen Verkomplizierung des Lebens von besonderem Wert ist. Bitte denkt an das Ei des Kolumbus, wenn sich die nächste Gelegenheit bietet, etwas zu tun, das vernünftig ist und etwas Courage erfordert. Ihr werdet neue Kontinente entdecken!

Das Ei des Kolumbus