You Gotta Have Balls

Lily Brett, Chuzpe

Manche Geschichten enden nie. Vor allem, wenn sie durch weltgeschichtliche Ereignisse geprägt wurden. Das Leben der Lily Brett ist, wenn man so will, eine Folge einer historischen Katastrophe. 1946 in Bayreuth geboren, ist sie die Tochter jüdischer Eltern, die Auschwitz überlebt hatten und sich nach dem Krieg erst in einem Auffanglager für Displaced Persons in Feldafing bei Dachau wieder fanden. Um der Tochter das Stigma dieses Geburtsortes zu ersparen, fuhren sie kurz vor der Geburt nach Bayreuth. Kurz darauf emigrierte die Familie nach Melbourne/Australien. Lily Brett arbeitete dort als junge Frau als Journalistin für Rock Magazine. Später übersiedelte sie nach New York City und etablierte sich dort als Schriftstellerin. Heute sind einige ihrer Bücher in deutscher Sprache erhältlich.

In dem 2005 erschienenen Roman „Chuzpe“ (im Original: You Gotta Have Balls) erzählt Bretts alter ego die Geschichte einer einigermaßen erfolgreichen Autorin ( für Sinn spendende Karten) die Geschichte von ihrem Vater, der ihr 87jährig aus Melbourne nach New York folgt und ihr Leben einigermaßen durcheinanderbringt. Die Erzählung ist vergleichbar mit einem sich immer schneller drehenden Karussell, in der alles aufeinandertrifft, was die tatsächlichen Biographien hinterlegen: den Realitätssinn eines Ostjuden aus dem Städtl, die Weltläufigkeit eines nie endenden Emigrantentums, die von einer auf die nächste Generation übertragenen Traumata, die ständige Reibung von Tradition und schnelllebiger Moderne, das Changieren von Rollen und eine beständige sexuelle Agilität.

Mal erscheint der alte Mann in New York wie der Besuch eines Anachronismus, um dem Melting Pot mit seiner Bodenständigkeit und seiner immer wieder erprobten Überlebensfähigkeit ein Angebot genialer Koexistenz zu machen. Und die in der Metropole längst etablierte Tochter mutiert bei dem Siegeszug des Vaters unter vielen Aspekten manchmal zu einem etwas rückständigen Mauerblümchen. Lily Bretts Komposition ist in diesem Roman genial. Sie zeigt die Relativität von Gewissheiten, die Urinstinkte des Überlebens, die Wertigkeit von Tradition und die Geheimwaffe eines durch kein Ereignis der Welt zu tilgenden Humors. Ein Humor, der jeder Autorität spottet, und selbst das eigene Ich nicht aus dem Fokus nimmt.

Chuzpe erscheint wie ein modernes Märchen mit einem Happy End. Bei genauem Hinsehen ist jedoch mit jeder Zeile der Preis zu spüren, der bezahlt wurde, um in einer sehr herausfordernden Umgebung nicht nur überleben, sondern auch noch erfolgreich sein zu können. Gleichzeitig ist es ein schnurriges Sittengemälde der New Yorker Geschäftswelt, die in ihrer Flüchtigkeit ihr Fett weg bekommt, aber gleichzeitig einen kleinen Lorbeerkranz erhält für ihre gleichzeitige Toleranz. Denn ohne letzteres wäre das ganze Konstrukt gar nicht existenzfähig.

Insofern ist der Roman, der eher leichtfüßig daherkommt, wie eine kleine Schrulle, doch ein großes Stück Literatur, weil sie Weltgeschichte transportiert, ohne zu erdrücken, weil sie soziologisch analysiert, ohne zu langweilen und weil sie unterhält, ohne flach zu sein. Mir wurde Lily Brett von einem profunden Kenner der Literatur empfohlen. Und, wie immer, war es ein äußerst wertvoller Hinweis. Das wahre Leben ist nie langweilig. Aber: You Gotta Have Balls!

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