Narrenspiel

Das, was den britischen Meinungsmachern mit dem Brexit gelungen ist, wird, wenn sich die Krise auch in Deutschland zuspitzen wird, noch so manch ein Verfechter des Wirtschaftsliberalismus neidisch betrachten. Denn dort ist gelungen, die EU für alles verantwortlich zu machen, was das Land seit der unseligen Margaret Thatcher erleiden musste. Die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts bildeten den Auftakt für eine europäische Sanierung nach dem Muster der so genannten Chicago Boys, einer amerikanischen Schule der Ökonomie, die alles, was ein Staat leistete, haarfein monetarisierte und dann skandalisierte. Jede staatliche Ausgabe war ein Problem, und alles, was die Menschen brauchten, konnte auch der freie Markt liefern. Es begann eine systematische Privatisierung staatlicher und öffentlicher Leistungen und gleichzeitig wurde ebenso systematisch alles, was an Wertschöpfung auf der Insel noch stattfand, liquidiert. So entstand ein relativ beständiges Heer von vier Millionen potenziellen Proletariern, die niemand mehr brauchte und es begann ein allgemeiner Trend der Verarmung, der in Europa seinesgleichen sucht.

Was die konservative Thatcher begann, setzte der Sozialist Blair fort. Es begann der Umbau der Insel, genauer gesagt Londons, in eines der Hochzentren des internationalen Börsenhandels und der Finanzspekulation bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Regionen mit allem, was dazu gehört: die Verrottung der Infrastruktur, die Verschlechterung von Bildung und vom Gesundheitswesen und ein immer drastischer und reglementierend vorgehendes Sozialwesen. London selbst wurde zu einem Ort artifizieller Existenz. Die Stammbewohner wurden immer mehr aus dem Zentrum heraus gedrängt und dort wohnen, wenn überhaupt, internationale Spekulanten, die sich vor Reichtum nicht mehr retten können. Täglich pendeln ca. Eine halbe Millionen Menschen von nah und fern in die City of London, dort zu wohnen kann sich von diesen niemand mehr leisten.

Die dem Milliardär Murdoch gehörende Presse hetzte in den letzten Jahren gegen alles, was aus Brüssel kam, wenn es um die Beschneidung der Freiheiten ging, von denen seinesgleichen so herrlich profitierten. Sowohl die europäische Initiative gegen Steueroasen wie die Cayman Inseln oder die Isle of Man als auch die Aktivitäten, die von Brüssel gegen die Monopolisierung des Pressewesens ausgingen, veranlassten die Meinungsmacher zu regelrechten propagandistischen Feldzügen gegen die EU. Und darin liegt das Paradoxe, die EU, ihrerseits in den letzten fünfzehn Jahren allzuoft vor allem durch deutsche Interessen zu einem Mittel zur Durchsetzung wirtschaftsliberalistischer Vorstellungen instrumentalisiert, hatte gerade in Großbritannien den Versuch unternommen, die Auswirkungen derselben zu mäßigen. Und dafür wurde sie angegriffen und geschickt für das verantwortlich gemacht, was besonders in Großbritannien durch die systematische Zerstörung des Gemeinwesens als Ergebnis zu erleiden war.

Der Brexit, wie er nun hier in Deutschland kolportiert wird, als ein Akt Verblendeter, war der Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung, den sozialen Generalangriff gegen die in Jahrzehnten erkämpften Existenzstandards zu beenden. Stattdessen saßen die meisten denen auf, die ihn betrieben hatten. Und ausgerechnet in diesem Fall stand die EU auf der richtigen Seite, obwohl es schwer fällt, das zu glauben. Die Koinzidenz, die jedoch in die meisten Länder der EU wirkt, ist das gemeinsame Leiden unter den Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus. Was in Großbritannien an Ablenkung gelang, wirkte bei den seit Monaten anhaltenden landesweiten Protesten der Gelbwesten in Frankreich gerade einmal zwei Wochen. Um es einmal sehr wohlwollend auszudrücken: die Bevölkerungen Europas wie die europäischen Institutionen sind derweil das Opfer der selben Ideologie. 

7 Gedanken zu „Narrenspiel

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  2. Avatar von fibeamterfibeamter

    Zu folgendem Halbsatz: das gemeinsame Leiden unter den Auswirkungen des Wirtschaftsliberalismus. Dies zeigt sich besonders bei den rechtswidrig bei den nur von der EU ratifizerten neueren Freihandelsabkommen mit dem Abbau von „Handelshemnissen „. Daher ist es notwendig, die bei change.org/JEFTA veröffentlichte Verfassungsbeschwerde von Frau Grimmenstein und weiteren 9.393 Mitstreitern zu unterstützen. Vor allem auch zu verbreiten, da hier die meisten Medien schweigen. „Lückenpresse!“

  3. Avatar von almabualmabu

    Ich sehe das im Wesentlichen genau so! Interessant auch in diesem Zusammenhang der offene Brief des Ex-Bankers und neoliberalen Polit-Quereinsteigers Emmanuel Macron an die Europäer, mit dem Aufruf, daß Europa sich ändern müsse, wenn es nicht untergehen wolle. Das klingt ja fast, als ob er den Briten für den Brexit ein wenig recht gäbe. Die meisten Europäer wollen wohl ein sozialeres Europa, hoffe ich? Neoliberaler, damit die Briten nicht „Brexiten“ müssen und drin bleiben, wäre zwar der Horror, aber die größte Gefahr droht der EU von den Rechtspopulisten und Separatisten der unterschiedlichsten Staaten, denn diese wollen ein „Zurück in die Zukunft des 19. Jahrhunderts!“ Das wäre die politische Vorraussetzung für viele neue Kriege in Europa?

  4. Avatar von BludgeonBludgeon

    Als neulich fast vergessen diese Thatcher starb und die Presse anfing Krokodilstränen zu weinen, gefiel mir ein Kommentar:

    Man sollte ihr Begräbnis zur Ausschreibung bringen und dem billigsten Anbieter überlassen.

    Grüble auch gerade über diese Teufelskreise:

    „Wir können uns diese Rente nicht leisten!“ vs. Zetsche kriegt 4000 € Rente am Tag!

    „Wir brachen pro Jahr soundsoviele Fachkräfte.“ vs. „Serbien kolabiert, weil Fachkräfte abwandern.“

  5. Avatar von monologemonologe

    Das sind doch alles Demokratien, oder? Neue Kriege in Europa – Angstmache. Ausgerechnet in Deutschland. Mehr Besorgnis muss man wohl haben vor einem Europa, das ohne England ein Deutschland ist in den Grenzen quasi von 1937. Mehr Sorgen muss man haben wegen Kampagnen und Bemühungen, gewissen Vereinen die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, da diese der Politikkaste ganz offensichtlich gegen die Interessen oder Inkompetenzen gehen – gegen die heimische Industrie, wie Laschet es sagte. Eine Art Zensur. Dabei haben die nichtmal den Autoschwindel aufgedeckt. Das waren die Amerikaner. Schande!
    Reden und aufklären darf ja jeder soviel er will, es ist wirkungslos. Gegen gewisse Zustände vorzugehen oder ganz anderer Meinung zu sein, das wird rigoroser bekämpft. Die haben alle große Angst, ihre Posten, ja, Fürstentümer zu verlieren. Die Mäuler werden immer größer.

  6. Avatar von fibeamterfibeamter

    Zu Monologe.: betr.: Gemeinnützigkeit. Die entsprechenden §§ der Abgabenordnung bzw. die Gemeinnützigkeitsvewrordnung gelesen?? Anregeung: sich vor Abfassung von Kommentaren erst kundig machen. In Deutschland ist fast alles gesetzlich geregelt.

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