Vor gut zwei Wochen trat etwas ein, das nicht untreffend mit der Formulierung „Duplizität der Ereignisse“ beschrieben wird. Denn zeitlich parallel wurde im nordenglischen Yorkshire wie im Ruhrgebiet die letzte Schicht auf den jeweils letzten aktiven Zechen gefahren. Für alle, sowohl im Norden Englands als auch im Ruhrgebiet, war das ein denkwürdiger Tag, weil er eine Epoche beendete, die die Entwicklung Europas nahezu 200 Jahre geprägt hatte. Der Bergbau als Energieversorger Nummer Eins ermöglichte die Industrialisierung und den Aufstieg Europas zu einer ökonomischen Weltmacht. Im XX. Jahrhundert bekam der Energieträger Kohle Konkurrenz durch andere Energielieferanten wie Öl, Kernenergie und regenerative Energien, aber auch durch billigere Kohle aus anderen Ländern der Welt. Der Bergbau selbst war nahezu zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisiert, viele Betriebsräte waren kommunistisch.
Während der Niedergang von Kohle und Stahl in Deutschland und dort vor allem im Ruhrgebiet dramatisch, aber eskortiert wurden von Sozialplänen und Projekten regionaler Neukonzeption, die den Untergang nicht schön reden konnten, aber zumindest Strohhalme der Hoffnung bildeten, hatte sich bereits die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher das Ziel gesetzt, erst die englischen Bergarbeitergewerkschaften zu zerschlagen und dann die Zechen zu schließen. Lief das Szenario im Ruhrgebiet über das Arbeitsamt, so in Nordengland über die berittene Polizei. Im Großbritannien der Achtziger Jahre konnte bereits registriert werden, welche Physiognomie bei der De-Industrialisierung und der Verwertung einzelner Herzstücke an der Börse herauskommen würde. Der Kampf gegen die englische Arbeiterbewegung war die Kampfansage gegen das europäische Proletariat insgesamt. Nur verstanden es die Gewerkschaften in den anderen Teilen Europas nicht so ganz.
Es ist ratsam, genau hinzuschauen, um zu sehen, wie die Geschichte weitergeht. Um eine Idee davon zu bekommen, was mit der Schließung der letzten Zeche in Yorkshire einhergeht, reichte es auch, sich den europäischen Wetterbericht und seine Folgen anzusehen. Dort wurde über Weihnachten vermittelt, dass ungeheure Regenfälle in Englands Norden zu Überschwemmungskatastrophen geführt hätten. Premier Cameron ordnete den Einsatz des Militärs an, um der Lage Herr zu werden. Was nicht berichtet wurde, ist, analog zu der Katastrophe, die vor einigen Jahren der Sturm Katrina nach einem ähnlich kriminellen Verhalten der Bush-Administration in New Orleans angerichtet konnte, ist die rigorose Streichung von notwendigen Investitionen in Deichanlagen durch eben diese Regierung Cameron.
Angesichts der Tatsache, dass in der Region keine Industrieanlagen mehr in Betrieb sind, die aus Sicht Camerons schützenswert wären, wurden alle angeforderten Investitionen gestrichen und die ehemaligen, nun arbeitslosen Bergleute und ihre Familien dem Schicksal preisgegeben. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Die englische Regierung schreibt die Reste des Proletariats, für die keine Verwendung mehr herrscht, nicht nur ab wie in der Bilanz, sondern versucht sie noch zu ertränken wie ein Wurf unwillkommener Katzen.
Der Rest Europas sollte sehr genau verfolgen, was in Großbritannien vor sich geht. Längst ist das Land in der Hand des spekulativen Finanzkapitals, längst hat sich die Ideologie des absolut freien Marktes dort etabliert und längst ist aus dem Land der ehemaligen Wertschöpfung ein Ressort geworden, in dem die vereinigten Coupon-Schneider das Sagen haben. Für Sentimentalitäten ist da kein Platz. Und eine Arbeiterklasse ohne Wertschöpfung braucht niemand. Entweder, sie werden ersäuft wie die Katzen, oder, ja, oder man entsorgt sie im Krieg. Wie gesagt, genau hinschauen, was in der City of London noch ausgeheckt wird.
Moin. Ich stimme dir zu: „Und eine Arbeiterklasse ohne Wertschöpfung braucht niemand.“, so kann man es sehen. Das Wort „Bergbau“ kannst man bspw. auch durch „Tourismus“ ersetzen. In Regionen mit niedergehendem Tourismus, siehe bspw. im Harz, ist die „öffentliche Hand“ auch nicht unbedingt bereit in Infrastruktur u. ä. zu investieren. „Das lohnst sich nicht“ (mehr) – wodurch der Niedergang nur noch verstärkt wird. Geld geht zum Geld, um sich dort – und nur dort – zu vermehren. Wenn ich mir anschaue, was hier an der Küste (Lübecker Bucht) investiert wird, dann kann ich oft nur noch den Kopf schütteln. Die Flucht ins „Betongold“ geht auch nur so lange gut, bis die Blase platzt. Und dann ist das Gejammer groß!
Viele Grüße aus Scharbeutz
Hat dies auf Fabulierlust rebloggt und kommentierte:
Ein interessanter Artikel. Es lohnt sich darüber nachzudenken.
Zwischen Ende der Thatcher-Regierung und Cameron liegt ein Vierteljahrhundert!
Danach verdiente das europ. „Proletariat“ ebenso den Untergang, wie staatlich
geförderte Großmonople. Der Bergbau war seit 1946 staatlich. Britische Kumpels
waren gut bezahlte Facharbeiter. Die Gewerkschaften hätten selbst etwas für die
Zukunft ihrer Kumpels investieren können, anstelle sich selbst zu bereichern.
Politisch scheint die Braunkohle am Ende – wirtschaftlich sicher nicht.
Dazu passt auch, daß Cameron sämtliche halbautomatischen Sport- und Jagdgewehre verbieten lassen will. (Kurzwaffen sind für Briten schon seit ’97 verboten). Damit geht Cameron noch weit über die aktuellen Enteignungspläne der EU-Kommission hinaus – die aber letztendlich ebenfalls auf die Totalentwaffnung der Bürger abzielen.
George Orwell schrieb vor vielen Jahrzehnten dazu:
„That rifle on the wall of the labourer’s cottage or working class flat is the symbol of democracy. It is our job to see that it stays there.“ — George Orwell
Das werden interessante Zeiten …
Empfehle hierzu auch ‚GB84‘ von David Peace über den nordenglischen Bergarbeiter-Streik 1984/85. Rezension folgt in Kürze, gern auch mit Link auf den Beitrag hier.
Viele Grüße,
Gerhard
Ich arbeite im Archiv der Ruhrkohle AG, manage also im Moment das Ende des Bergbaus hier. Ist wirklich interessant, alles. Auch, das die ab jetzt importierte Kohle an unsere Qualität niemals rankommt. Is aber billiger.
Ich finde, dass den Bergbau mit dem Kommunismus gleich zu setzen und den Niedergang daraus zu schließen etwas zu einfach. Das ist dann aber auch genug an Kritik.
Tatsächlich beobachten wir auch in Deutschland einen klaren Trend weg von den Gewerkschaften und leider auch von der Politik. Wir merken nicht, dass wir Sachen streichen, für die lange gekämpft wurden. Uns ist das leider egal. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir auch kulturell die 68ger Revolution rückgängig gemacht haben. Eine neue Spießigkeit gedeiht prima. Wirtschaftlich und kulturell sind wir bald zurück im Vorkriegsdeutschland und keiner der jungen Generation stört das. Wahrscheinlich ist das der Lauf der Dinge.
Beschweren können wir uns trotzdem. Find ich jedenfalls. Es ist schade, dass es so läuft. Wir bräuchten viel mehr, die sich aufregen.
Erst wurden Dinge hart und unter großen Opfern erkämpft. Anfangs war man sich des Wertes dieser Errungenschaften durchaus bewusst. Dann wurden sie selbstverständlich. Dann aus den Augen verloren und heute läßt man sich ohne nennenswerten Widerstand Dinge nehmen, für die Generationen gekämpft haben. Erst wenn wir alle wieder arme Taglöhner sind, auf einem einheitlichen Weltarmutsniveau sozusagen, werden wir uns aus dem Sofa erheben, den TV aus dem Fenster werfen, die Ärmel aufkrempeln, eine Bahnsteigkarte lösen und zur Weltrevolution aufrufen.. möglicherweise?
Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Was im Falle von Calamity-Dave Cameron die Deiche sind, das sind bei uns Infrastrukturmaßnahmen, die seit Jahren systematisch unterbleiben, unterlassen, eingespart werden. Da sich die Wirtschaft systematisch als Steuerzahler verabschiedet kommt unweigerlich eine Lawine an Bauruinen und somit ein riesiges Problem auf unsere Infrastruktur und Lebensqualität zu. Parallel entstehen in Rumänien und der Ukraine Billigstlohn-Länder, in die unsere Industrieproduktion verlagert wird. Gibt’s eigentlich noch deutsche Lkw-Fahrer, oder fahren für sie mittlerweile südosteuropäische Kollegen für die dortigen Niederlassungen namhafter „deutscher Firmen“?
Als in den 80ern die Studenten der Ruhr Uni Bochum zu den Stahlarbeiterstreiks nach Duisburg fuhren, wurde viel vom bald kommenden Strukturwandel gesprochen. Es wurde viel visioniert und noch mehr schwadroniert.
Wenn ich heute (1994 aus NRW weggezogen) mal wieder dort bin, sehe ich tatsächlich etwas davon. Der Strukturwandel hat sich vollzogen. Nur eben nicht so, wie prophezeit bzw. erhofft…
Denn das, was sich NRW an Strukturwandel, Innovation, Technologie, Arbeitsplätzen (Beschäftigungszahlen, Lohnniveau) etc. für die Region an Rhein und Ruhr gewünscht hat, findet offensichtlich ganz woanders statt – z.B. im Großraum München. Die noch vor 30 Jahren extrem landwirtschaftlich geprägte Umlandregion ist mittlerweile nicht mehr wiederzuerkennen.
Vielleicht – ganz vielleicht – muss man sich auch mal fragen, ob das erwartbare Sterben von Kohle und Stahl hätte zu anderen politischen Konsequenzen führen müssen, als denjenige, die Stadt- und Landesregierungen damals gezogen haben…
Zum Denken anregender Rückblick, denn er betrifft das sich wandelnde Lebensgefühl – als Folge der sich wandelnden Produktionsverhältnisse. Die alte Power ist weg, wenn die Grundlagen der heimischen Produktion auf Import beruhen. Man fühlt sich, als ginge man auf Eiern, hat kein Selbstvertrauen, sondern Angst vor den Weltentwicklungen, von denen man unmittelbar abhängt. Mögliche Reaktionen sind: Entweder man versucht,eine aktive Rolle im Weltgeschehen einzunehmen, um die eigenen Interessen zu sichern (Rohstoffkriege etc), oder man montiert Solarzellen auf dem Dach des eigenen Häusles und macht sich „unabhängig“. Beide Varianten werden grad in Deutschland ausprobiert. Beide greifen zu kurz, denn eine Lösung gäbe es nur, wenn an die Stelle der nationalen Egoismen und Grenzen eine weltweite gerechte Wirtschaftsordnung träte. Natürlich ist die nicht in Sicht – im Gegenteil -, es entwickelt sich eine weltweite ungerechte Wirtschaftsordnung, in der nur die Finanzmärkte profitieren und jede einzelne Nation verzweifelt versucht, nicht in den Orkus der Armut gespült zu werden. (Jeder für sich und das Finanzkapital gegen alle).
Ich wusste nicht einmal das es in England noch aktiven Bergbau gibt, sehr interessanter Artikel und eben so eine Schlussfolgerung. Denn der Bergbau ist nicht nur der Bergbau, wie du so schön sagst, ohne es zu sagen. Wirklich ein spannendes Thema, über das man ansonsten eher hinweg liest; „Bergbau“ klingt auch so furchtbar anachronistisch
Hier wird auf sehr hohem Niveau „gejault“.Es ging den Menschen hier noch nie so gut (Renten,med. Versorgung,Ernährung,saubere Umwelt,Wasserqualität,Wohnraum…etc.)wie heute.Schauen sie doch bitte mal die Ländle der Montanunion in den 60. Jahren zu o.a. Punkten an.Ja ja,
grau ist alle Theorie. Wenn es Spass bringt zu Stöhnen,warum nicht
Ich persönlich denke, dem normalen Malocher ging es in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts am Besten? Wer damals ein Auto kaufte, der legte das Geld auf den Tisch und zirkelte nicht mit Krediten und Leasing herum. Die Schichten unserer Gesellschaft, die sich damals noch Häuser bauten, könnten dies heute in den meisten Fällen nicht mehr. Heute reicht es in vielen Fällen gerade noch zum Ratenkauf des „Statussymbol-Handys“. Richtig oder falsch, mein Eindruck?
Sehe ich auch so!
In seinem Werk „Democracy in America“ beschreibt A. de Tocqueville 1840 ein nach ihm benannten Paradox:
„…dass sich mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht“.
Dann würde umgekehrt mit dem Abbau von sozialen Errungenschaften die gesellschaftliche Sensibilität trotz wachsender Ungerechtigkeit gar verringert?
Der Umkehrschluss funktioniert hier nicht, da etwas weggenommen wird, von dem man sich vorher bedienen konnte. Also eine negative Aktion des Staates. (Testen Sie den Effekt bei Ihren Kindern: Vergleichen Sie die Verweigerung eines IPhones mit der Konfiszierung desselben. 🙂
Überzeugt, schwerer Fehler!
Sehr geehrter Herr almabu, sehr geehrter Herr Dr. Mersmann (Wirtschaftswissentschaftler ?)
Gefühltes Glück ist so eine Sache. Bitte rechnen Sie mal nach wieviel Minuten ein Malocher bzw. ein Sierra Nevada 4 Empfänger arbeiten bzw. anwesend sein muss, um an den o.a. „Wohlstandsabfällen“ partizipieren zu können.
Ab 60 plus neigen die Menschen häufig zu der Aussage: Früher war alles besser……