Komplexität im nah-östlich arabischen Raum

Reduzierte man das gegenwärtige Machtgefüge in Tunesien lediglich auf das Land selbst, dann wäre alles zwar auch komplex, aber immer noch überschaubar und aus dem Land heraus beeinflussbar. Nach der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich hatten zwei erst patriarchalisch, dann diktatorisch regierende Staatspräsidenten, Bourguiba und Ben Ali, das Land in staatswirtschaftlichen Bahnen geleitet. Korruption und Despotie herrschten, aber auch Sicherheit und Stabilität für ein kleines Land im geographischen Ensemble mit großen Stürmen der Gewalt. Dennoch hielt der antiquierte und despotische Herrschaftsstil Ben Alis nicht den zunehmend massiver werdenden Einflüssen der Moderne stand. Eine anwachsende Mittelschicht, die von unternehmerischem Denken geprägt war und in der die Frauen immer selbstbewusster in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eingriffen und ein anwachsendes junges akademisches Proletariat, das als Ergebnis der Landflucht zu werten ist, stanzten die Sargnägel für das alte Regime.

Als dann, nach der Flucht Ben Alis, quasi über Nacht die Möglichkeit für die Demokratie vor der Tür stand, existierten keine in demokratischen Konkurrenzprozessen heraus gebildete Parteien. Mit der Ennahda bekam eine muslimische Vereinigung bei den ersten Wahlen die Mehrheit. Ihre Referenz war die Verfolgung durch Ben Ali, ihre Mildtätigkeit und Unbestechlichkeit. Die Tunesierinnen und Tunesier, vor allem aus Mittelschicht und akademischem Proletariat, schluckten diese religiöse Kröte mangels Alternative und unter der Prämisse, dass die ersten Wahlen die Regierung ausschließlich damit beauftragt hatten, eine Verfassung zu erarbeiten.

Die muslimische Mehrheit hat im verfassungsgebenden Prozess einzig und allein die Karte gespielt, die Prinzipien der Scharia in das Recht der neuen Demokratie zu gießen. Alles andere, vom Nepotismus bis zur Korruption, hätte die Opposition der Ennahda verziehen, dieses jedoch nicht. Folglich ist es umgekehrt nicht verwunderlich, wenn die extremen Vertreter des Islamismus den schärfsten Kritiker der Vermischung von Religion und Staat auf offener Straße hingerichtet haben.

Die Massenbasis der radikalen Kräfte kommt vom Land, die Masse der tunesischen Jugend, die mehr als fünfzig Prozent der Stadtbevölkerung ausmacht, verspürt keine Anziehung durch die islamistische Renaissance. Das Militär, seinerseits historisch zwar anti-kolonial, aber in der weltlichen Tradition einer bürgerlichen französischen Armee sozialisiert, bekennt sich zum Islam als kultureller Basis des Landes, hat aber kein Interesse an einer fundamentalistischen Gewaltpolitik.

Die rein nationale Arithmetik der Machtverhältnisse würde in Tunesien zu dem Ergebnis kommen, dass eine bürgerliche, weltliche, aber dennoch traditionell verhaftete Politik die weitere Zukunft des Landes bestimmten. Wäre da nicht eine anwachsende nah-östliche und arabische Komplexität, die das Denken sowohl der Fundamentalisten wie der Militärs beeinflusste. So genannte Achsenbemühungen, die Konstellationen wie Istanbul-Teheran-Kairo aufscheinen lassen und etwas von persischen und osmanischen Imperialphantasien in sich tragen, verursachen große Verunsicherung bei den möglichen Akteuren. Fast alle hier in Tunesien sind sich einig, dass die Zeit für den islamistischen Fundamentalismus spräche und diesem nur Einhalt geboten werden könne, wenn man ihm schnell und entschlossen begegnete. Das Getöse jedoch, dass gegenwärtig Ahmadinedschad, Erdogan und Mursi veranstalten, suggeriert das Zuwarten als Besonnenheit.

Es wird zudem deutlich, dass auch in Tunesien das Politikmodell zu greifen droht, welches sowohl in der Türkei als auch in Ägypten bereits gegriffen hat: Die Herrschaft von Technokraten, die den Islam als Instrument benutzen, um ihre Ziele in ihren Ländern politisch durchzusetzen.