Archiv für den Monat Februar 2010

Dissonanz als Konsens?

Deutschland badet sich einmal mehr in einer Auseinandersetzung, in der verschiedene Lager nicht mit herben Vorwürfen gegenüber den jeweils anderen sparen. Das müsste nichts Schlechtes sein in einer Gesellschaft, die sich definierte als eine des Streites und der Auseinandersetzung um einen gemeinsamen Weg, der trägt. Nur leider ist es nicht so, der Vorwurf der Dekadenz hier und des Klientelismus dort wird nicht getragen von Vorschlägen, die einen fundamentalen gesellschaftlichen Konsens ermöglichten. Denn ein Konsens erwiese sich dann als stabil, wenn er denn trotz harter Gegensätze dafür stünde, worauf sich strategisch alle einigten. Wer das gleiche Ziel verfolgt, der ist durchaus bereit, auf dem Weg dorthin das eine oder andere Mal in einen sauren Apfel zu beißen.

Was momentan jedoch zu beobachten ist, kann am besten mit der Geschichte der feindlichen Brüder aus dem einstmals ritterlichen Rheinlande umschrieben werden, die sich beide ruinierten, um sich am Untergang des jeweils anderen zu ergötzen. Je mehr unsere heutige Geisteslage in einem Gemisch aus Unmut über die Zustände, Wut auf das Vorgehen einzelner Gruppen und Verzweiflung über die Sprachlosigkeit beschrieben werden kann, desto größer wird die Lust der großen Interessengruppen, ihre eigene Positionierung ins Extreme zu treiben. Die ehemals gemäßigte Position des rheinischen Kapitalismus driftet zunehmend mehr zu einer preußisch-protestantischen Variante des Manchester-Kapitalismus. Die Seele des freien und verantwortlichen Unternehmertums scheint verkauft zu sein an den streunenden Abkocher, der dort verweilt, wo er das meiste herausholt und weiterzieht, wenn sein Wohlstand ihm zur Pflicht wird.

Demgegenüber steht ein zunehmend in der globalen Ökonomie gehetzter Partner von Arbeitnehmern und deren Interessenorganisationen, die ihr Heil in den Philosophien der alten Zeiten suchen, in denen protektionistisches oder gar merkantilistisches Handeln für begrenzte Zeiträume noch möglich war. Zwar ist die Verzweiflung verständlich, denn die Zeiten, in denen organisierte Arbeitnehmer im Einklang mit einer wirtschaftlich gedeihlichen Entwicklung ihr Geschick materialisieren konnten, gehen dramatisch zur Neige. Dass diese Verzweiflung mehr und mehr in einem tiefen Glauben an das Staatsmonopol mündet, macht die Sache desaströs.

In einer derartigen Situation ist Strategie und Führung gefragt, die dadurch besticht, dass die Gemeinsamkeiten einer Gesellschaft deutlich gemacht und der Wert einer gemeinsamen Anstrengung plausibel werden. Der momentane Status ausschließlicher und sich zudem widersprechender Moderation aus der Regierung trägt zu einer weiteren Verwirrung bei. Hinzu kommt, dass das Streiten tabuisiert wird und der Terminus der Konsensdemokratie in weitgehender Weise die Hirne in tiefen Nebel führt. Denn der in diesen Prozessen hergestellte Konsens ist nichts als der kleinste gemeinsame Nenner, der alles verwässert. So bleibt nichts als Dissonanz, und die Metapher des Turmbaus zu Babel erfährt eine dramatische Aktualisierung. Nur wenn heftig gestritten wird, besteht eine Chance, dass die Konturen, um die es geht, deutlich werden.

Schmerzhaft, schön und vergänglich

Gerry Mulligan, Astor Piazzolla: Tango Nuevo

Das Zusammentreffen großer Vertreter ihres Metiers muss nicht unbedingt heißen, dass etwas Neuartiges oder Einzigartiges zustande kommt. Manchmal glänzen die Protagonisten nebeneinander in ihrer Meisterschaft, aber sie finden nicht zueinander. Ihre Brillanz bleibt isoliert, aber der Funke springt nicht über. Bei dem Zusammentreffen von Astor Piazzolla und Gerry Mulligan im Jahr 1987 war das etwas andres. Da trafen sich zwei Lebensweisen, die ineinander flossen und sie schufen etwas Einzigartiges. Mit dem Album Tango Nuevo entstand eine Musik, die kein Genre so richtig erfassen kann.

Formal am Tango Nuevo, der Kontrapunktierung Piazzollas gegenüber dem traditionellen Tango angelehnt, durchfließen alle Stücke die traditionellen Metaphern des Tangos wie des blues-orientierten Jazz, sie rekurrieren auf die Vergänglichkeit, die Entwurzelung, die Sehnsucht und die Vergeblichkeit. Mit dem ersten Stück, 20 Years Ago, wird das Thema auch melodisch gesetzt, denn es kehrt fragmentarisch in allen Variationen zurück, selbst in der konkreten Reminiszenz Aire De Buenos Aires taucht das Thema auf, und bei der Hommage an die Einsamkeit, Years Of Solitude, erweist es sich als Grundgefühl der Melancholie.

Gerry Mulligan, der wie ein Titan vermocht hat, das Baritonsaxophon aus der rotzigen Rhythmisierung der Marching Bands und den rauchigen Off Beats des Bi Band Jazz in die Höhen der melodiösen Führung zu bringen, trifft mit diesem Außenseiterinstrument auf Piazzolla, der mit dem Emigrantenkonstrukt namens Bandoleon ähnliches vollbracht und die Klangbilder der Kaschemmen vom Rio de la Plata in die Clubs von Greenwich Village brachte. Beiden, Mulligan wie Piazzolla gelang es, weil sie nicht über die Extravaganz einer Technik, sondern die Intensität eines Gefühls mit ihren Instrumenten die Welt eroberten. Und obwohl beide einem Genre entstammen, waren sie nie durch das Genre beherrscht. Ihre Offenheit entsprang der der Universalität eines seelischen Zustandes, der weltumspannend anzutreffen ist.

Auf Tango Nuevo erleben wir eine Fusion, die keine ist, weil sie keine unterschiedlichen Genres vereint. Viel mehr treffen sich Artgenossen, denen das Bedürfnis innewohnt, das gleiche ausdrücken zu wollen. Das machen sie mit den Mitteln, die sich auf ihrem langen Weg der Erkenntnis angeboten haben. Deshalb, und nur deshalb, gelingen derartig dissonant schwermütige, befremdende und doch so vertraute Klangkompositionen und Figuren, die den Stoff bieten für große Erkenntnis.

Tango Nuevo ist die Musik für die großen Gefühle, mit denen man am liebsten allein ist, weil sie der Einsamkeit entstammen. Gemeinsam erleben kann man das nur beim Hören dieser Musik. Sie bricht einem das Herz, aber sie ist unerklärlich schön.

Spannung in der Erbärmlichkeit

Erich Maria Remarque: Arc de Triomphe

Sie flohen zu Hunderttausenden in alle Welt, die Intellektuellen, die Qualifizierten und die Politischen. Das politische Epizentrum des Nationalsozialismus vernichtete nicht nur den deutschen Nationalstaat, er nahm ihm auch das, wofür er schon vor der Nationalstaatlichkeit bekannt und begehrt war: Das kulturelle Erbe, den Geist und eine einzigartige Intellektualität. Das, was Ernst Bloch so treffend das Unsägliche genannt hatte, brachte nicht nur Millionen ins Grab, es entwurzelte auch das geistige Leben Zentraleuropas. Erich Maria Remarque, der mit seinem Buch über den I. Weltkrieg unter dem Titel Im Westen nichts Neues bereits in aller Welt gelesen wurde, widmete mit seinem spannenden und letztendlich 1945 erschienenen Arc de Triomphe den Exilierten in aller Welt einen bis heute überaus aktuellen und lesenswerten Roman.

Die Handlung spielt im Paris vor der Mobilmachung gegen die befürchtete Invasion der deutschen Truppen zur Neige der dreißiger Jahre. Die Stadt wimmelt vor legalen und illegalen Emigranten. Vor allem die Illegalen fristen ein sehr bescheidenes Dasein, das neben den materiellen Entbehrungen vor allem geprägt ist von der Angst, von den französischen Behörden aufgegriffen und irgendwann doch den Nazis ausgeliefert zu werden und in einem Konzentrationslager zu landen. Die Kulisse sind schäbige Emigrantenhotels sowie windige Nachtclubs und Bordelle. Hauptfigur ist Ravic, ein deutscher Illegaler in seiner 5. Identität, einst erfolgreicher Chirurg in Deutschland, durch die Verhörtorturen der Gestapo gegangen, geflohen, mehrmals gefasst und in die Schweiz abgeschoben und immer wieder mit einer neuen Identität aufgetaucht. Um sein Leben bestreiten zu können, operiert er illegal für alternde französische Chirurgen, die das Messer nicht mehr ruhig halten können und bekommt dafür den Bruchteil von deren Honorar, von dem sich aber leben lässt.

Ravic lernt eine junge Italienerin kennen, die fremd in Paris ist und deren Lebensgefährte sich im Hotel umgebracht hat. Neben der Geschichte einer vergeblichen Liebe, in der die Lebensphilosophien nicht kompatibel sind, gewinnt die Geschichte an Dramaturgie durch das zufällige Aufeinandertreffen Ravics mit einem früheren Folterer bei der Gestapo. Dieser verweilt in eindeutiger Mission in Paris, um die deutsche Invasion durch geheimdienstliche Tätigkeit vorzubereiten. Der Nazi erkennt Ravic bei deren Aufeinandertreffen jedoch nicht wieder. So entschließt sich Ravic, den Nazi zu ermorden, was ihm mit Hilfe eines russischen Emigranten auch gelingt. Nach dieser Tat scheint Ravic mit sich im Reinen zu sein, eine seltsame Ruhe überkommt ihn und er sieht selbst während der französischen Mobilmachung den Ereignissen gelassen entgegen, so das er sogar beschließt, sich den französischen Behörden als Illegaler zu stellen.

Der Triumphbogen im Zentrum von Paris wird zu einer Metapher für die Ambivalenz, die dem Begriff innewohnt. Zu groß ist die Kehrseite des Triumphalen, als dass sie überstrahlt werden könnte, nicht individuell, nicht politisch und nicht historisch. So versinkt der Arc de Triomphe, der wie ein Lesezeichen immer wieder in dem Roman auf sich aufmerksam macht, zum Schluss in tiefer Dunkelheit.