Bei der Erziehung eines Hundes spricht man von zwei essentiellen Faktoren: Bindung und Dressur. Je nach Rasse und Temperament sind beide Komponenten zu berücksichtigen. Die eher eigenwilligen, selbständigen Charaktere gewinnt man über die Bindung. Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist das Entscheidende. Stimmt diese Beziehung, ist sie von Vertrauen und Verständnis geprägt, dann ist damit zu rechnen, dass das Tier mit einem ausgeprägten eigenen Willen dennoch zu einer guten Beziehung mit dem Menschen fähig ist und das Auftreten beider in der Gesellschaft ohne Probleme gewährleistet ist. Stimmt die Beziehung nicht, ist keine Bindung vorhanden, dann ist das Chaos vorhersehbar.
Bei anderen, eher angepassten Charakteren reicht es aus, die Gesellschaftsfähigkeit über Dressur herzustellen. Das Verhalten wird eingeübt. Regel und Sanktion. Negativ wie positiv. Die so konditionierten Individuen funktionieren, solange der Dompteur in der Nähe ist und sie scheren auch nicht in die Wildnis aus, wenn der Herr und Meister nicht vorhanden ist. Sie verkümmern. Anders bei den Individuen, die sich nur durch Bindung domestizieren lassen. Ihre Chance, auch ohne den Menschen klar zu kommen, ist weitaus größer. Sie sind fähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Je mehr Wolf im Spiel ist, desto wichtiger die Bindung. Und je höher die Domestizierungsanteile, desto wichtiger die Dressur.
Ja, es ist gewagt und pointiert, aber die Übertragung auf die politischen Verhältnisse unserer Tage hat doch einen gewissen Reiz. Betrachten wir es als eine von der Dramaturgie gesponserte Übung! Wodurch ist der Zoon Politikon, mit dem wir es hierzulande zu tun haben, am meisten geprägt? Zeichnet er sich durch einen starken eigenen Willen aus und folgt er der Regierung aufgrund einer Bindung, die durch Vertrauen und Wertschätzung geprägt ist? Oder ist sein domestiziertes Verhalten zurückzuführen auf eine lange Periode der Dressur?
Oder anders herum: Welches Verständnis haben die politischen Mandatsträger zu denen, von denen sie das Mandat erhalten haben? Halten sie sie für starke Individuen, denen sie ihrerseits ihre Loyalität zeigen müssen, bevor sie etwas von ihnen verlangen? Oder halten sie sie für Wesen, die man mittels einer Pädagogik von Regel und Sanktion dressieren und abrichten kann? Und die dann gehorchen?
Die Fragen mag jeder für sich beantworten. Doch egal, zu welchen Antworten man kommt, die Grundidee einer Demokratie ist Bindung und nicht Dressur. Wenn die Bindung stimmt, dann sind gesellschaftliche Krisen eine Herausforderung, der sich alle stellen. Ist das Gefüge durch Dressur bestimmt, dann sind Krisen existenziell. Dann ist die notwendige Widerstandsfähigkeit nicht gegeben. Dann besteht die Gefahr, dass alles implodiert.
Es sei denn, unter der Decke einer unaufhaltsam veranstalteten Dressur befindet sich doch noch ein Charakter des domestizierten Zoon Politikon, der bei einem Ausmaß der Zumutung umschlägt in den Autokompass. Dann geht er von sich aus auf Jagd und sucht nach Optionen, die ihm das Überleben sichern. Dann nützen die kleinen durch Dressur erworbenen Kunststückchen nichts mehr, dann geht es ums Überleben. Und dann ist das alles nicht mehr lustig. Weil dann gebissen wird, weil Blut fließt und weil dann solange der Gegner geschüttelt wird, bis das Genick gebrochen ist.
Wie gesagt, manche Gedanken muss man manchmal durchspielen, um einen anderen Blick auf die immer wieder aus der gleichen Perspektive betrachteten Erscheinungen zu bekommen.
