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Zur Lage: Es herrschen die Superlative!

Es herrschen die Superlative. In der Beschimpfung. Wenn ich die Begriffe betrachte, mit denen sich derzeit politische Gegner gegenseitig malträtieren, beschleicht mich das ungute Gefühl, dass die Skala nach oben so langsam ausgereizt ist. Der Faschismus lauert überall, der offene, der getarnte, die Stalinisten sind wieder unter uns, die Nationalsozialisten, die Fünften Kolonnen, die Landesverräter, die Saboteure, die Terroristen, die Brunnenvergifter, die Kriegstreiber hier, die versteckten Kriegstreiber dort. Wenn es so ist, wie täglich an vielen Stellen beschrieben, dann kann mit jeder Form von Verständigungsversuchen nichts mehr erreicht werden. Das Klügste wäre dann, sich gegenseitig zu meucheln. Dann blieben vielleicht noch einige wenige Vernünftige übrig, die in der Lage wären, eine sehr rustikale, abgespeckte Zukunft zu gestalten. Aber so?

Die Mechanismen, die zu diesem beklagenswerten Zustand geführt haben, sind hinreichend beschrieben worden. Es hat mit dem brutalen Niedergang des Journalismus zu tun. Es hat etwas mit gezielter Polarisierung in der Politik zu tun, es liegt auf vielen Feldern an eklatantem Unwissen, es liegt an der Erpressbarkeit vieler Existenzen, es liegt an befürchteten Wohlstandsverlusten, es liegt an einer durch einen langen Friedensprozess gewachsenen Lethargie. Es liegt an dem, was Politologen einen post-heroischen Befund nennen. Der Individualismus hat sich, zumindest als Illusion, zu der alles entscheidenden, alleinigen Instanz gemausert. Dass es kollektive Erfordernisse gibt, die die Basis für das Wohlergehen der Einzelnen sind, ist nahezu ausgeblendet. Dass es jedoch die gesellschaftliche Kohäsion, d.h. der Zusammenhalt ist, der eine sozial verträgliche und sogar vorteilhafte Existenz des Individuums erst ermöglicht, wird nicht gesehen. Der Zustand, den wir jeden Tag beklagen und der anfangs beschrieben wurde, ist exakt das Indiz für diese These. Wer nur noch Feinde ringsum sieht und den das Dasein der anderen nicht interessiert, ist ein ideales Museumsstück für den Irrweg des Neoliberalismus. Genau dieser setzt exklusiv auf das Eigeninteresse und er hat, nachweisbar, allen Gesellschaften, wo er sein Unwesen treiben durfte, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört. Und er ist verantwortlich für den strategischen Absturz des einst so produktiven und mächtigen Westens.

Aus dieser Gasse entkommt man nicht mit Beschimpfung und Diffamierung. Das ganze Gezeter, das seit einigen Jahren zu hören ist, bezeugt die Ratlosigkeit und das Festhalten an alt bewährten Formen, die an sich keinen Wert mehr darstellen. Die alles entscheidende Frage, die die unerträglichen Hassdebatten beenden kann, die im übrigen auch von denen befeuert werden, die sie öffentlich beklagen, ist die nach dem Charakter des Zusammenlebens. Wie wollen wir unsere Gesellschaft gestalten? Sollen essenzielle Voraussetzungen wie Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Wohnen, Mobilität weiterhin durch Privatisierungen geschreddert werden oder sagen wir, nein, das sind Leistungen, die jedem zustehen und das lassen wir uns etwas kosten? Und komme niemand mit dem Kalauer, das könnten wir uns nicht leisten! Die tausend Schlupflöcher, durch die Steuern verschwinden werden geschlossen, Privilegierung durch Subventionen werden beendet, eine Landesverteidigung wird gesichert, aber die Beteiligung an imperialistischen Kriegen wird ausgeschlossen.

Wer nicht wie ein Kokon in einer hermetisch gesicherten Blase existiert, wird wissen, dass es den meisten Menschen um diese Punkte geht und dass auf dieser Basis eine Einigung erzielt werden könnte, weil die Mehrheit dieses wünscht. Bringen Sie einmal solche Argumente vor und warten Sie auf die Reaktion! Und schnell trennt sich die Spreu vom Weizen. Zur Zeit ist viel Spreu anzutreffen. Aber auch solche Zeiten gehen vorüber.